de Jonghe, Le repos du laboureur zu Geschmackssachen; aus Philosophierungen
Ästhetische
Betrachtung ist Anschauung gegebener Verhältnisse. Sie geschieht ohne andere Absicht als eben die: Verhältnisse anzuschauen.
Ob sie eine natürliche (primäre) oder eine künstliche (sekundäre)
ist, hängt davon ab, ob 'der Mensch' als ursprünglich absichtsvoll oder
als ursprünglich betrachtend aufgefasst wird. Das ist so simpel nicht,
wie es scheint. Denn der ursprüngliche Mensch lebte mit seiner Um-welt im Einklang, mit ihr hatte er natürlichen Stoffwechsel, aber darüber hinaus gehende Zwecke setzte er sich nicht. Die semantische Falle: In diesem Zustand war er ursprünglich, aber noch kein Mensch. Die Hominisation war der Prozess, in dem der Mensch seinen ur- sprünglichen Naturzustand verließ und sich in der Fremde Zwecke setzen musste.
Viel weiter als das sich Darbietende abzuweiden, reichten seine
frühesten Zwecke aber nicht. Noch heute verbringen die wenigen überlebenden
und in unwirtliche Gegenden ab-gedrängten Jäger-und-Sammler-Völker
weniger Zeit mit dem Nahrungserwerb als ein Bür-ger der
Industriegesellschaft. Ihr Leben ist noch keineswegs von morgens bis
abends "ver-zweckt", Muße haben sie reichlich. Hätten unsere Vorfahren
nicht durch verwundertes Be-trachten der Erscheinungen ihren Gesichtskreis
erweitert, hätten wir nie Gelegenheit be-kommen, uns über Erkennen und
Anschauen Gedanken zu machen.
Doch die Erfindung der Arbeit
wurde zu einem Flaschenhals. Die Zeit wurde knapp, der Horizont wurde
eng. Das müßige Betrachten wurde zum Privileg der Herrschenden, und weil
sie, wenn sie nicht Krieg führten, nichts besseres zu tun hatten,
konnten sie es kulti-vieren.
Da
sind wir nun. Zweckhaftes Erkennen und uninteressiertes Anschauen haben
sich ge-trennt und unabhängig von einander fortentwickelt. Auf der einen
Seite die Industrie, auf der andern die Kunst. Aber im wirklichen Leben
nehmen sie keineswegs denselben Rang ein. Der Mensch in der
Arbeitsgesellschaft ist in erster Linie absichtsvoll, Betrachten ist ein Luxus, den er sich allenfalls nach getaner Arbeit
leisten kann. Oder weil er den herrschen-den Klassen angehört und andere
für sich arbeiten lässt. Das Ästhetische ist eine Sache der Reichen.
Mit der Industrie hat jeder zu tun, wenn nicht produktiv, dann wenigstens als Konsument. Aber die Kunst ist eine Sache von wenigen
für wenige. Das konnte sie nur bleiben, solange ästhetische Betrachtung
ein Privileg war, weil die große Masse weder Zeit noch Geld dafür
hatte. Heute hat die Masse Zeit und Geld; nicht viel, aber sie ist es
eben eine Masse. Die Kulturindustrie will Geld verdienen und nicht die
Menschheit missionieren, ästhetische Maßstäbe vertritt sie selbst nicht.
Aber Künstler müssen auch Geld verdienen. Je mehr von ihnen
konkurrieren, umso vielfältiger die Qualitäten und umso mehr Chancen für
jede. Es kann eigentlich nicht ausbleiben, dass sich der Geschmack
der großen Masse in dem wach-senden Maße, wie er sich nun betätigen kann,
differenziert und individualisiert. Auf die Dauer muss eine Anschatzung, muss ein Wachstum stattfinden.
Zugleich
dringen ästhetische Gesichtspunkte immer tiefer in die industrielle
Produktion. Was immer hergestellt wird - irgendeine Form, irgendeine
Farbe muss es haben. Ob es Auswirkungen auf ihren Gebrauchswert
hat, können nur die entscheiden, die ihren Tausch-wert auslegen sollen.
Ihre Bedürfnisse sind nichts anderes, als die Ansprüche, die sie stel-len.
*
Am Anfang war das Vermögen
des Menschen eins. Die frühesten Wildbeuter werden ihre Zeit zwischen
absichtsvollem Jagen und absichtsvollem Sammeln und absichtsloser
Betrach-tung ganz zufällig geteilt haben, wie sich's eben ergab. Am
ehesten bietet sich noch das Sammeln zu Planung und Regulierung an: Der
Ackerbau ist aus dem Sammeln entstanden. Von hier aus griff der
Gesichtspunkt der Nützlichkeit auf immer mehr Bereiche der - im selben
Maße vergesellschafteten - menschlichen Tätigkeit über, die ganze Welt
wurde zu einem Horizont von Absichten. Nur an der obersten
wohlhabendsten Spitze fand die ab-sichtslose Betrachtung eine Zuflucht;
wo sie sich freilich auch zu gebildetem Feinsinn spe-zialisierte: Die Kunst wurde - neben dem ebenfalls privilegierten Wissen - zu einer gesell-schaftlichen Instanz.
Und
so weiter, siehe oben. Je mehr Geschmack und Nutzen ineinander
verschwimmen, umso geringer wird der Unterschied zwischen Kunst und
Industrie (und übrigens zwischen Spiel und Arbeit). Es wird noch lange dauern, bis er in der Wirklichkeit schwindet. Doch die Begriffe werden's nicht hindern.
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