Montag, 15. November 2021

In der Anschauung schwebt das Objekt vor mir.

      zu Geschmackssachen; aus Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Ich finde mich beschränkt im Gefühle, aber ich kann nicht fühlen, ohne anzuschauen, und unmittelbar für die Anschauung ist das Objekt da. Hinterher kommen dergleichen Bestim-mungen vor, dass das Objekt betrachtet wird als etwas auf uns Einfließendes; aber diese Be-stimmungen kommen erst vor, wenn das Objekt schon da ist. 

Das Etwas, welches dem Anschauenden vorschwebt, ist hier weder Bild noch Ding, es ist ohne alle Beziehung auf uns. Weder Bild noch Ding, sondern beides, es wird nachher in bei-de geschieden, es ist der Urstoff für beide, das unbegreifliche Etwas ohne Beziehung auf uns. Auch im gemeinen Bewusstsein behaupten wir, dass die Dinge unmittelbar da sind. 

Wir können hier die Anschauung noch nicht weiter charakterisieren, als dass sie sei etwas dem Ich Vorschwebendes und insofern NichtIch, wenn es nämlich auf das Anschauende bezogen werden könnte, nicht aber auf das ganze Ich, dass sie sei / etwas positiv Haltendes, dass ihr der Charakter des Seins zukomme, indem sie die gesamte Tätigkeit des Ich zur ide-alen macht.

Das Objekt wird nicht gefühlt, es ist bloß, indem ich anschauend bin, und im Anschauen fühle ich mich.
_______________________________________________________________________J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 83f.  



Nota I. - Da fällt mir zweierlei ein: zuerst Schillers ästhetischer Zustand, und dann, dass seit Plato das Staunen als Anfang der Philosophie gilt.


19. 9. 16

Nota II. - Das Staunen triff zu, aber der ästhetische Zustand nicht mehr. Denn aus dem Staunen vor dem Einen Ganzen wird sogleich die Suche nach den Merkmalen und das Un-terscheiden von Mannigfaltigem an ihm. Würde sich das ursprüngliche Staunen der Nach-frage enthalten und auf das Bestimmen der Merkmale verzichten können und in bloßem Anschauen verharren, möchte ein ästhetisches Mit-Schweben dabei herauskommen. Aber das Staunen kann sich des Bestimmenwollens nicht enthalten, nicht gattungs- und nicht individualgeschichtlich, es muss fixieren und diffenrenzieren.

Ob es, nachdem es mit dem Reflektieren begonnen hat, rückblickend davon absehen und auf jedes Verhältnis der Mannigfaltigen verzichten kann, ist eine Frage der Kultur. Ästheti-sche Betrachtung muss ein Individuum in seiner gesellschaftlichen Situation sich erst einmal leisten können. Es braucht Muße und darf sich nicht von der Sorge ums täglich Brot getrie-ben fühlen. Das dürfte in den zwei Millionen Jahren, die unsere Vorfahren als Jäger und Sammler zugebracht haben, häufiger vorgekommen sein als in den zehntausend Jahren Ar-beitsgesellschaft, die eben hinter uns liegen.

Indessen liegt uns heute eine Fülle von Reflektiertem und Bestimmten vor Augen, von der wir absichtlich absehen können, die unser Vorfahren nicht ahnten. Wir müssen uns nicht begnügen, das Ganze (die Ganzen!) lediglich anzustaunen, wir haben die Möglichkeit, je-weils Ganze im Verhältnis, als Verhältnis ihrer inneren Differenzierung anzuschauen - schwebend, als Rhythmus und als Proportion, als Gestalt; und nicht, wie im werktätigen Leben, als Funktion zu berechnen.
JE, 28. 10 18



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