Dienstag, 6. Oktober 2020

Das Anschauen ist, im Gegensatz zum Fühlen, Tätigkeit.

Peder Mørk Mønsted                   aus Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Ich fühle in dem Anschauen mich bloß tätig; das dem Anschauen Entgegengesetzte muss außer mir gesetzt werden und wird sonach zum NichtIch, zu einem nur Begrenzenden. Dass es ein NichtIch sei, sehen wir hier nur von dem philosophischen Gesichtspunkte, es ist bloß ein Begrenzendes. Das Ich ist nicht aus sich herausgegangen. Meine eigene Be-schränktheit ist es, welche angeschaut wird, aber sie wird nicht angeschaut als die meinige, sie wird nicht auf mich bezogen. Ich bin das gefühlte Subjekt der Anschauung, und qualis talis (als solches) tätig; die Beschränktheit ist es, wodurch die ideale Tätigkeit [,] ideale Tätig-keit wird.

In der Anschauung bin ich nicht das Angeschaute, nicht das Objekt derselben. Das An-schauen [ist,] im Gegensatz mit dem Gefühle [,] Tätigkeit. Mit dem Anschauen ist Selbst-gefühl verknüpft. Im Anschauen fühle ich mich als tätig; was ist nun das Objekt? Es ist nichts anderes als das Gefühl selbst, das Gefühl meiner Beschränkheit, aber diese Begrenzt-heit wird nicht gesetzt als die meinige. Das Objekt wird gesetzt als außer mir, NichtIch, es ist entg-/gengesetzt dem Ich, aber auf dieses Entgegengesetzte wird nicht gemerkt, es wird nicht auf mich bezogen.
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J. G. Fichte,  Wissenschaftslehre nova methodo,  Hamburg 1982, S. 81f.


Nota. - Im Fühlen sind Tätigkeit und Leiden vereinigt. Es ist die Synthesis vor aller Teilung, es ist die Stelle, wo Ich und NichtIch einander 'setzen', die Stelle wo mir mit mir-selbst zu-gleich eine Realität 'gesetzt' ist; indem ich das Andre fühle, fühle ich mich.

Aber mehr auch nicht. Von Bewusstsein kann noch in keinem Sinn die Rede sein: Dazu müsste ich mich aus der unmittelbaren sinnlichen Einheit lösen und, indem ich vom An-dern zurücktrete, zu mir selbst Abstand nehmen.

Das geschieht in der Anschauung. Indem ich mich anschauend im Gegenstand versenke, gehe ich mir, nachdem ich mich eben zum erstenmal gefühlt habe, wieder verloren. Im ästhetischen Zustand, sagt Schiller, sei der Mensch "gleich Null". Aus dieser unverhofften Wiedervereinigung kann er sich nur lösen, indem er vom Anschauen zum Bestimmen über-geht: des Gegenstands sowohl als seiner selbst. Er geht zur Reflexion in specie über: Im An-schauen geschah sie erst 'an sich', im Bestimmen wird sie - und er - für ihn.

Wie kommt aber das Ich oder jenes A-Morphem, das ihm vorausging, dazu, sich all dem zu unterziehen? 

Wir nehmen vorab an: durch Freiheit - was nichts anders heißt, als dass es gewollt haben muss. Was aber zugleich heißt, dass es das ebensowohl unterlassen konnte.

*

'Der Mensch' hat sich eine Welt eingerichtet, die von mannigfaltigen Bestimmten angefüllt ist und in der, nicht zuletzt durch seine nimmermüde Tätigkeit, allezeit neues unbestimmt-Bestimmbares hinzukommt. Um in dieser Welt zu bestehen, wird er mit dem Bestimmen ewig und unendlich fortfahren müssen.

Er wird es aber, wenn er will, unterbrechen können - solange er will und solange die ge-schäftige Welt es ihm er- laubt. Der ästhetische Zustand, das Anschauen um seiner selbst willen, wurde möglich, seit mit dem Bestimmen einmal begonnen wurde.
16. 6. 19
 
 
Nota II. - Anlässlich neuer Verhaltensbeobachtungen bei Rabenvögeln kam dieser Tage wieder die Frage auf, ob nicht auch manche Vögel über eine wie auch immer rudimentäre Form von Bewusstsein verfügten - indem im Gedächtnis nicht nur empfangene Reize, son-dern auch deren subjektiver Erlebnisgehalt gespeichert würden. Nicht aber wurde das Erleb-nis unterschieden von einem, an dem es erlebt wurde oder gar von dem, der erlebt hatte; was erst erlauben würde, sie voneinander zu trennen, indem sie in ein Verhältnis zueinander gesetzt werden. Das wäre Reflexion in specie - und das, was allein sinnvoller Weise Bewusst-sein heißen kann. 

Ob die erwähnten Versuche so oder anders auszuwerten sind, ist Sache der Verhaltenskun-de und nicht der Philosophie. Die Transzendental-Philosophie liefert allerdings die Kriterien, an denen die empirische Forschung ihre Fragen formulieren und ihre Urteile zweckmäßig aus-richten sollten. Nicht die empirischen Befunde begründen die Transzendentalphilosophie (was sie nicht nötig hat); sondern umgekehrt begründet die Transzendentalphilosophie die Wis-senschaftlichkeit bloßer Erfahrung. Weshalb Fichte sie Wissenschaftslehre genannt hat.
 
 
Nota III. - Und schließlich dies noch: Kant hatte zwischen Anschauung und Sinnlichkeit noch keinen Unterschied gemacht. Erfahrung setzt das eine so gut wie das andere voraus. Fichte dagegen unterscheidet zu Anfang die Anschauung vom Gefühl und kommt erst viel später zum Begriff.
 
Bloß ein kleiner Unterschied? Aber der hats in sich. Stehen Sinnlichkeit und Begriff so eng bei einander und zudem in einem reflexiven Verhältnis, so stehen sie zu einander in einem Gegensatz und einer Wechselbestimmung: Das eine ist genau das, was das andere nicht ist. Es liegt ein Hiatus zwischen ihnen, die Vorstellung von einem Sprung tritt auf, und weil... man sich dabei nichts vorstellen kann, schleicht sich die rhetorische Floskel vom Umschlagen ein. 

Dabei lässt sich tatsächlich nichts denken; es sei denn man denkt sich einen Treiber dazu, der von einem zum andern fortschreitet. Dann stehen sie nicht (logisch) gleichrangig neben einan-der und der eine schlägt so gut in den andern um wie der in ihn; sondern sie werden zu Stu-fen, die (genetisch) nach einander erstiegen werden müssen, und die eine nicht ohne die vo-rige. Was an Übergang und Vermittlung je zu leisten ist, tut einer, der es so will: Das ideelle Moment kommt zwar erst nachträglich zum materiellen hinzu, ist aber das über jenes und über ihr wechselseitiges Verhältnis Bestimmende; und so bleibt es auch, wenn der außenstehen-de Betrachter in der Abstraktion 'das Ideelle' als das Dauernde, weil Notwendige vor 'dem Reellen' als dem zufällig Bedingten denkt.

Es ist zwar ein Schema; aber eines, das zum Modell des Wirklichen taugt - und nicht ein Gepinst, das auf dem Entschluss beruht, nichts verstehen zu wollen.
JE

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