Mittwoch, 21. Oktober 2020

Herbarts Geschmack.

 

aus Herbarts Einsicht in den ästhetischen Grund der Bildung

Der sittliche Geschmack ist nicht verschieden von
  dem poetischen, musikalischen, plastischen
  Geschmack.
 Joh. Fr. Herbart

Wie weit er den Begriff des Ästhetischen fasse, könne Schiller sich nicht einmal vorstellen, schrieb Fichte [63]; der Atheismusstreit hat ihn dann vom Wege abgebracht. Kant hatte die Urteilskraft noch zu einem verschämten philosophischen Gottesbeweis benutzt. Wir müß-ten so urteilen, als ob „in der Natur gar nichts ohne Zweck sei. Allein, den Endzweck der Natur suchen wir in ihr vergeblich.“ Als dessen Gewährsmann dient ihm Gott: „Folglich müssen wir eine moralische Weltursache (einen Welturheber) annehmen, um uns einen Endzweck vorzusetzen.“[64] Fichte hatte für diesen gewundenen „Schluß vom Begründe-ten auf den Grund“, auf „ein besonderes Wesen als die Ursache desselben“, nur Spott üb-rig: „Die moralische Ordnung ist das Göttliche, das wir annehmen! Es wird konstruiert durch das Rechttun. Jene lebendige und wirkende moralische Ordnung ist selbst Gott; wir bedürfen keines anderen Gottes und können keinen andern fassen.“[65]  Eine Moral, die auf einen Garanten für ihren Erfolg rechnet, ist keine.

Mit dem Verzicht auf einen ‚Schöpfer’ ist freilich der Rangunterschied zwischen Ethik und Ästhetik eingeebnet. Unsere Neigung, moralischen Urteilen einen logisch höheren Wert zuzuschreiben als ästhetischen, beruht auf einer heimlichen theologischen Prämisse: daß nämlich diese den Absichten unseres Schöpfers gewissermaßen ‚näher stehen’ als jene. Fällt diese Prämisse fort, unterscheiden sie sich nur noch hinsichtlich ihres Anwendungsfelds; denn autonome Werturteile sind sie beide.

Johann Friedrich Herbart hat diesen Schluß ausdrücklich gezogen. In unserem Vorstellen kommen Bestimmungen vor, bei denen „das Denken nicht bei bloßer Verdeutlichung still stehen kann“, sondern vielmehr „einen Zusatz herbeiführt, der in dem Urteile des Beifal-lens oder Mißfallens besteht“: Das gilt für Ethik und Ästhetik gleichermaßen; indem sie gemeinsam auf „Wertbestimmungen durch Lob und Tadel beruhen“, fallen sie „in eine Hauptklasse zusammen“. Dabei umfaßt der Begriff der Ästhetik den weiteren Geltungsbe-reich, er bezieht sich auf alle denkbaren Verhältnisse; die Ethik dagegen nur auf „gefallende und mißfallenden Willensverhältnisse“. Ästhetik und praktische Philosophie verhalten sich so zu einander, „daß jene die weitere, diese die engere Sphäre sei“.[66]

GeschmackDas spezifisch ästhetische Vermögen ist der Geschmack. „Nicht in der Masse, sondern in den Verhältnissen liegt der ästhetische Wert.“ [67] Geschmack ist „nichts anderes als der allgemeine Name für die Beurteilung einzelner Verhältnisse“. Das spezifisch moralische Vermögen ist folglich sittlicher Geschmack. „Der sittliche Ge-schmack, als Geschmack überhaupt, ist nicht verschieden von dem poetischen, musikalischen, plastischen Geschmack. Aber spezifisch verschieden ist der Gegenstand“: Was zu beurteilen ist, liegt „hier außer uns, dort in uns selber“.[68] Das Gute ist das „sittlich Schö-ne“, doch spricht der Geschmack jeweils nur im einzelnen Fall, „in lauter absoluten Urteilen, ganz ohne Beweis. Für verschiedene Gegenstände gibt es ebenso-viele ursprüngliche Urteile, die sich nicht aufeinander berufen, um logisch auseinander ab-geleitet zu werden.“[69] Sittliche Bildung ist Geschmacksbildung – und umgekehrt.

Allerdings – eine Einbildungskraft kommt bei Herbart nicht vor; überhaupt kein produkti-ves Vermögen. „Die Vernunft vernimmt; und sie urteilt, nachdem sie vernahm.“ [70] Das intellektive Vermögen des Menschen ist rein rezeptiv; Herbart hat mit der kritischen Philo-sophie gebrochen! Es heißt, Herbart sei ein realistischer Denker gewesen. Nur bedeutet das im philosophischen Gebrauch so etwa das Gegenteil wie in der Umgangssprache. Hier be-ziehen sich ‚Realismus’ und ‚Idealismus’ allein auf die Frage nach der Herkunft unserer Er-kenntnis. Realistisch heißt jene Lehre, wonach der Erkenntnisvorgang in den Dingen selbst (lat. res) seinen Ausgang nimmt, indem sie ihre Qualitäten in unser Bewußtsein prägen. Zu-erst hat Plato diese Lehre ausgesprochen. Seine Ideen waren ebenjene ‚Dinge’, die sich in unserm Geiste abbilden;[71] jeder ‚Realist’ ist immer auch irgendwie Platoniker. Idealistisch (von gr. ideîn, sehen) heißt dagegen die Auffassung, wonach das Erkennen in einem Akt des Erkennenden seinen Ursprung hat. Und ‚kritisch’ nannten Kant und Fichte ihren Idealis-mus, weil sie diesen Akt nicht spekulativ behaupten, sondern phänomenologisch ergründen wollten.[72]

Das Ding, in dem Herbarts Erkenntnis seinen Ausgang nimmt, nennt er ein Reale (Pl. die Realen). [73] Es ist eine geistige Größe, ein „metaphysischer Punkt“ wie Leibniz’ Monade, und hat mit der materiellen Welt aber auch gar nichts zu tun: „Diese Welt ist eine Schein-welt. Sie gehorcht der Mathematik und lebt, wie diese, von Widersprüchen. Als ein wahres Reales kann Materie ebensowenig gedacht werden, wie Bewegung als ein wirkliches Gesche-hen; aber die Gesetzmäßigkeit des Scheins aus dem Realen zu erklären, das läßt sich lei-sten.“[74] Das erinnert stark an Platos Höhlengleichnis[75] und begründet die Kehrtwen-dung zur Leibniz’schen Spekulation – auf höherer Ebene. Doch während Plato uns an den Ideen immerhin ‚teilhaben’ ließ, bleiben uns Herbarts Realen so unzugänglich wie Kants Ding-an-sich.[76] Er müsse wohl den transzendentalen Gedanken nie ganz verstanden haben, mutmaßte Fichte.[77] Tatsächlich hat er ihn für eine Art Skeptizismus höherer Ordnung gehalten, durch den ein tüchtiger Kopf wohl hindurch gehen, wo er aber nicht stehen bleiben mußte.[78] Des Reflektierens müde, kehrte auch Herbart ‚hinter Sokrates zurück’. Doch nicht (um, wie Nietzsche, die Metaphysik zu begraben) zum bodenlosewigen Werden des Heraklit, sondern (um die Metaphysik zu restaurieren) zum festen Halt am ewigen Sein der Eleaten;[79] mit trocknem Witz vorgetragen, aber blutig ernst gemeint.

Auf seinen Schöpfer verzichtet das neubarocke System nicht: „Gott, das reelle Zentrum aller praktischen Ideen und ihrer schrankenlosen Wirksamkeit, der Vater der Menschen und das Haupt der Welt“.[80] Nicht als vorgestellter Zeuge allgemeiner Zweckmäßigkeit ohne Zweck, sondern als wirkende Kraft, deren „unfehlbarer Erfolg“ im Gemüt der leibhaftigen Menschen „ebenso notwendig“ ist wie die ursächlichen Wirkungen „in der Körperwelt“!      [81]

MassenWirksam wurde Herbart nicht als Philosoph, sondern als Begründer der wissenschaftlichen Psychologie und der wissenschaftlichen Pädagogik. Aber leider hing eins am andern, und das hat die Sache verdorben. Am wirksamsten wurde seine Pädagogik durch das Falscheste daran. Das war die Scheidung in einen ‚praktischen’ Teil – der den Zweck darstellt: „die ästhetische Auffassung der umgebenden Welt“[82] – und einen davon unabhängigen theoretischen Teil, der die Methode begründet – seine rationalistische Psychologie: „Psychologische Pädagogik ist rein theoretisch. Sie macht jedes schlechte Verfahren und sein Wirken ebenso begreiflich als das rechte. So ist sie jedem brauchbar. Er mag nun seine Zwecke bestimmen, wie er immer will.“[83] Herbart hat die englische Assoziationspsychologie in Deutschland eingeführt, allerdings mit einem charakteristischen Zusatz. Er hat sie dynamisch gemacht – aber vor allem mechanisch, das heißt mathematisierbar. „Das Merken beruht auf der Kraft einer Vorstellung gegen die andern, welche ihr weichen sollen, also teils auf ihrer absoluten Stärke, teils auf der Leichtigkeit des Zurückweichens der übrigen.“[84] Vorstellungen gelten ihm als ‚Massen’, die einander verdrängen oder an einander anknüpfen können, als hätten sie ‚Haken und Ösen’. Das Verdrängen und Verknüpfen der Vorstellungen steuern – das wäre die technische Seite der pädagogischen Arbeit.[85]

Herbart blieb stets ein Gegner der Institution Schule, sein Ideal war der im familiären Alltag ästhetisierend wirksame Hauslehrer. Solche Feinheiten bekümmerten die Herbartianer nicht mehr.[86] Der Zweck der Pädagogik stand fest; Moralität, was sonst? Und die Methode mußte ja, wenn sie wissenschaftlich war, überall dieselbe sein! Mit ihrer Pedantisierung des Wie, der technischen Seite der Pädagogik – ohne Rücksicht auf das Was als ihrem Sinn – begründeten sie die Lernschule in Deutschland, wie wir sie bis heute kennen. Dem Standes-bedürfnis der Lehrer war das recht. Das wissenschaftliche Interesse an der Pädagogik hat entweder philosophische oder beschäftigungspolitische Gründe; und wo nicht die philoso-phischen vorwalten, tun’s die andern. Denen verdanken wir die Technologisierung der Pädagogik zur ‚Methode’ und die leviathanische Erfassung des Heranwachsens durch die Staatsorgane ebenso wie das akademische Bastardfach ‚Erziehungswissenschaft’ als ihr Feigenblatt; und unsern Platz auf der Pisa-Skala sowieso.

Noch eine jede pädagogische Reformbewegung mußte damit beginnen, die Frage nach dem Was der Erziehung, als ihrem Rechtsgrund, neu aufzuwerfen. Geschmacksbildung – das ist das Was der Pädagogik, die ästhetische Darstellung der Welt ist ihr Wie: Herbarts elementa-re Einsicht freizulegen unterm technokratischen Gestrüpp, das aus seiner radikal verfehlten Metaphysik wuchert – das ist die Aufgabe des fälligen pädagogischen Neuanfangs. Die äs-thetische Auffassung der Pädagogik läßt sich allein kritisch begründen; allerdings auch nur sie.
 
 
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63] Fichte an Schiller, 27. 7. 1795; in: Fichte, Briefe, Bln. (O) 1986, S. 154 
[64] Kant, Kritik der Urteilskraft; aaO, S. 417; 413 
[65] Fichte, Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung (1798) in Philosophisches Journal Bd. VIII (1798); neu: SW Bd. V, S. 186; 185 
[66] ders., Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie (1813); Hamburg 1993, S. 52; 50; 143; 53
[67] ders., Allgemeine Pädagogik…, hier zit. nach: (Hg. Holstein) Bochum 983, S. 103
[68] ders., Allgemeine praktische Philosophie (1808) in: SW Bd. 8, Hamburg 1890, S. 29; 23 
[69] ders., Über die ästhetische Darstellung der Welt als das Hauptgeschäft der Erziehung; hier zit. nach: Gerhard Müßener (Hg.), S. 108 
[70] ebd, S. 107 

71] Phaidon IV, 72e-74a 
[72] Mit dem kritischen (‚transzendentalen’) Idealismus ist übrigens eine andere als eine rein ‚materialistische’, streng auf Erfahrungstatsachen gegründete Naturwissenschaft nicht vereinbar; geschweige denn eine übersinnliche ‚Weltursache’. 
[73] Herbart, Hauptpunkte der Metaphysik (1806), SW Bd. 3, 1884 
[74] ders., Einleitung in die Philosophie, S. 330 
[75] Politeia VII, 514a-518b 
[76] Streng genommen handelt es sich also gar nicht mal um ‚Realismus’; vgl. W. Windelband/H. Heimsoeth, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, Tübingen 1950, S. 488 
[77] F. an Schelling am 22. 10. 1799; Briefe, S. 270 
[78] Herbart, Einleitung…, S. 66-80 
[79] gr. Philosophenschule im süditalienischen Elea, im 5. Jhdt. v. Chr.: Xenophanes, Parmenides, Zenon 
[80] Herbart, Die ästhetische Darstellung…, S. 118 
[81] ebd, S. 103 
[82] ebd, S. 115 
[83] ders., Aphorismen zur Pädagogik, SW Bd. 11, 1892; S. 430 
[84] ders., Allgemeine Pädagogik, S. 89 
[85] H. hat diese technische Seite in einem Gebäude von mathematischen Gleichungen formalisiert; gemäß dem über Leibniz von Descartes übernommenen Wissenschaftsprogramm. Vgl. Lehrbuch zur Psychologie (1816); SW Bd. 5, 1886; S. 15-36 
[86] an ihrer Spitze Tuiscon Ziller (1817-1882) und Wilhelm Rein (1847-1929)

 

Nota. Die obigen Fotos gehört mir nicht, ich habe sie im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und ihre Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE

 

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