aus Herbarts Einsicht in den ästhetischen Grund der Bildung
Der sittliche Geschmack ist nicht verschieden von
dem poetischen, musikalischen, plastischen
Geschmack.
Joh. Fr. Herbart
Wie weit er den Begriff des Ästhetischen fasse, könne Schiller sich nicht einmal vorstellen, schrieb Fichte [63]; der Atheismusstreit hat ihn dann vom Wege abgebracht. Kant hatte die
Urteilskraft noch zu einem verschämten philosophischen Gottesbeweis
benutzt. Wir müß-ten so urteilen, als ob „in der Natur gar nichts ohne
Zweck sei. Allein, den Endzweck der Natur suchen wir in ihr vergeblich.“
Als dessen Gewährsmann dient ihm Gott: „Folglich müssen wir eine
moralische Weltursache (einen Welturheber) annehmen, um uns einen
Endzweck vorzusetzen.“[64]
Fichte hatte für diesen gewundenen „Schluß vom Begründe-ten auf den
Grund“, auf „ein besonderes Wesen als die Ursache desselben“, nur Spott
üb-rig: „Die moralische Ordnung ist das Göttliche, das wir
annehmen! Es wird konstruiert durch das Rechttun. Jene lebendige und
wirkende moralische Ordnung ist selbst Gott; wir bedürfen keines anderen
Gottes und können keinen andern fassen.“[65] Eine Moral, die auf einen Garanten für ihren Erfolg rechnet, ist keine.
Mit
dem Verzicht auf einen ‚Schöpfer’ ist freilich der Rangunterschied
zwischen Ethik und Ästhetik eingeebnet. Unsere Neigung, moralischen
Urteilen einen logisch höheren Wert zuzuschreiben als ästhetischen,
beruht auf einer heimlichen theologischen Prämisse: daß nämlich diese
den Absichten unseres Schöpfers gewissermaßen ‚näher stehen’ als jene.
Fällt diese Prämisse fort, unterscheiden sie sich nur noch hinsichtlich
ihres Anwendungsfelds; denn autonome Werturteile sind sie beide.
Johann
Friedrich Herbart hat diesen Schluß ausdrücklich gezogen. In unserem
Vorstellen kommen Bestimmungen vor, bei denen „das Denken nicht bei
bloßer Verdeutlichung still stehen kann“, sondern vielmehr „einen Zusatz
herbeiführt, der in dem Urteile des Beifal-lens oder Mißfallens
besteht“: Das gilt für Ethik und Ästhetik gleichermaßen; indem sie
gemeinsam auf „Wertbestimmungen durch Lob und Tadel beruhen“, fallen sie
„in eine Hauptklasse zusammen“. Dabei umfaßt der Begriff der Ästhetik
den weiteren Geltungsbe-reich, er bezieht sich auf alle denkbaren
Verhältnisse; die Ethik dagegen nur auf „gefallende und mißfallenden
Willensverhältnisse“. Ästhetik und praktische Philosophie verhalten sich
so zu einander, „daß jene die weitere, diese die engere Sphäre sei“.[66]
Das
spezifisch ästhetische Vermögen ist der Geschmack. „Nicht in der Masse,
sondern in den Verhältnissen liegt der ästhetische Wert.“ [67]
Geschmack ist „nichts anderes als der allgemeine Name für die
Beurteilung einzelner Verhältnisse“. Das spezifisch moralische Vermögen
ist folglich sittlicher Geschmack. „Der sittliche Ge-schmack, als
Geschmack überhaupt, ist nicht verschieden von dem poetischen,
musikalischen, plastischen Geschmack. Aber spezifisch verschieden ist
der Gegenstand“: Was zu beurteilen ist, liegt „hier außer uns, dort in
uns selber“.[68]
Das Gute ist das „sittlich Schö-ne“, doch spricht der Geschmack jeweils
nur im einzelnen Fall, „in lauter absoluten Urteilen, ganz ohne Beweis.
Für verschiedene Gegenstände gibt es ebenso-viele ursprüngliche Urteile,
die sich nicht aufeinander berufen, um logisch auseinander ab-geleitet zu
werden.“[69] Sittliche Bildung ist Geschmacksbildung – und umgekehrt.
Allerdings
– eine Einbildungskraft kommt bei Herbart nicht vor; überhaupt kein
produkti-ves Vermögen. „Die Vernunft vernimmt; und sie urteilt, nachdem
sie vernahm.“ [70]
Das intellektive Vermögen des Menschen ist rein rezeptiv; Herbart hat
mit der kritischen Philo-sophie gebrochen! Es heißt, Herbart sei ein
realistischer Denker gewesen. Nur bedeutet das im philosophischen
Gebrauch so etwa das Gegenteil wie in der Umgangssprache. Hier be-ziehen
sich ‚Realismus’ und ‚Idealismus’ allein auf die Frage nach der Herkunft
unserer Er-kenntnis. Realistisch heißt jene Lehre, wonach der
Erkenntnisvorgang in den Dingen selbst (lat. res) seinen Ausgang nimmt, indem sie ihre Qualitäten in unser Bewußtsein prägen. Zu-erst hat Plato diese Lehre ausgesprochen. Seine Ideen waren ebenjene ‚Dinge’, die sich in unserm Geiste abbilden;[71] jeder ‚Realist’ ist immer auch irgendwie Platoniker. Idealistisch (von gr. ideîn,
sehen) heißt dagegen die Auffassung, wonach das Erkennen in einem Akt
des Erkennenden seinen Ursprung hat. Und ‚kritisch’ nannten Kant und
Fichte ihren Idealis-mus, weil sie diesen Akt nicht spekulativ behaupten,
sondern phänomenologisch ergründen wollten.[72]
Das Ding, in dem Herbarts Erkenntnis seinen Ausgang nimmt, nennt er ein Reale (Pl. die Realen). [73]
Es ist eine geistige Größe, ein „metaphysischer Punkt“ wie Leibniz’
Monade, und hat mit der materiellen Welt aber auch gar nichts zu tun:
„Diese Welt ist eine Schein-welt. Sie gehorcht der Mathematik und lebt,
wie diese, von Widersprüchen. Als ein wahres Reales kann Materie
ebensowenig gedacht werden, wie Bewegung als ein wirkliches Gesche-hen;
aber die Gesetzmäßigkeit des Scheins aus dem Realen zu erklären, das
läßt sich lei-sten.“[74] Das erinnert stark an Platos Höhlengleichnis[75] und begründet die Kehrtwen-dung zur Leibniz’schen Spekulation – auf höherer Ebene. Doch während Plato uns an den Ideen immerhin ‚teilhaben’ ließ, bleiben uns Herbarts Realen so unzugänglich wie Kants Ding-an-sich.[76] Er müsse wohl den transzendentalen Gedanken nie ganz verstanden haben, mutmaßte Fichte.[77]
Tatsächlich hat er ihn für eine Art Skeptizismus höherer Ordnung
gehalten, durch den ein tüchtiger Kopf wohl hindurch gehen, wo er aber
nicht stehen bleiben mußte.[78]
Des Reflektierens müde, kehrte auch Herbart ‚hinter Sokrates zurück’.
Doch nicht (um, wie Nietzsche, die Metaphysik zu begraben) zum
bodenlosewigen Werden des Heraklit, sondern (um die Metaphysik zu
restaurieren) zum festen Halt am ewigen Sein der Eleaten;[79] mit trocknem Witz vorgetragen, aber blutig ernst gemeint.
Auf
seinen Schöpfer verzichtet das neubarocke System nicht: „Gott, das
reelle Zentrum aller praktischen Ideen und ihrer schrankenlosen
Wirksamkeit, der Vater der Menschen und das Haupt der Welt“.[80]
Nicht als vorgestellter Zeuge allgemeiner Zweckmäßigkeit ohne Zweck,
sondern als wirkende Kraft, deren „unfehlbarer Erfolg“ im Gemüt der
leibhaftigen Menschen „ebenso notwendig“ ist wie die ursächlichen
Wirkungen „in der Körperwelt“! [81]
Wirksam
wurde Herbart nicht als Philosoph, sondern als Begründer der
wissenschaftlichen Psychologie und der wissenschaftlichen Pädagogik.
Aber leider hing eins am andern, und das hat die Sache verdorben. Am
wirksamsten wurde seine Pädagogik durch das Falscheste daran. Das war
die Scheidung in einen ‚praktischen’ Teil – der den Zweck darstellt:
„die ästhetische Auffassung der umgebenden Welt“[82] – und einen davon unabhängigen theoretischen Teil, der die Methode
begründet – seine rationalistische Psychologie: „Psychologische
Pädagogik ist rein theoretisch. Sie macht jedes schlechte Verfahren und
sein Wirken ebenso begreiflich als das rechte. So ist sie jedem
brauchbar. Er mag nun seine Zwecke bestimmen, wie er immer will.“[83]
Herbart hat die englische Assoziationspsychologie in Deutschland
eingeführt, allerdings mit einem charakteristischen Zusatz. Er hat sie
dynamisch gemacht – aber vor allem mechanisch, das heißt
mathematisierbar. „Das Merken beruht auf der Kraft einer Vorstellung
gegen die andern, welche ihr weichen sollen, also teils auf ihrer
absoluten Stärke, teils auf der Leichtigkeit des Zurückweichens der
übrigen.“[84]
Vorstellungen gelten ihm als ‚Massen’, die einander verdrängen oder an
einander anknüpfen können, als hätten sie ‚Haken und Ösen’. Das
Verdrängen und Verknüpfen der Vorstellungen steuern – das wäre die
technische Seite der pädagogischen Arbeit.[85]
Herbart
blieb stets ein Gegner der Institution Schule, sein Ideal war der im
familiären Alltag ästhetisierend wirksame Hauslehrer. Solche Feinheiten
bekümmerten die Herbartianer nicht mehr.[86]
Der Zweck der Pädagogik stand fest; Moralität, was sonst? Und die
Methode mußte ja, wenn sie wissenschaftlich war, überall dieselbe sein!
Mit ihrer Pedantisierung des Wie, der technischen Seite der Pädagogik –
ohne Rücksicht auf das Was als ihrem Sinn – begründeten sie die Lernschule
in Deutschland, wie wir sie bis heute kennen. Dem Standes-bedürfnis der
Lehrer war das recht. Das wissenschaftliche Interesse an der Pädagogik
hat entweder philosophische oder beschäftigungspolitische Gründe; und wo
nicht die philoso-phischen vorwalten, tun’s die andern. Denen verdanken
wir die Technologisierung der Pädagogik zur ‚Methode’ und die
leviathanische Erfassung des Heranwachsens durch die Staatsorgane ebenso
wie das akademische Bastardfach ‚Erziehungswissenschaft’ als ihr
Feigenblatt; und unsern Platz auf der Pisa-Skala sowieso.
Noch
eine jede pädagogische Reformbewegung mußte damit beginnen, die Frage
nach dem Was der Erziehung, als ihrem Rechtsgrund, neu aufzuwerfen.
Geschmacksbildung – das ist das Was der Pädagogik, die ästhetische
Darstellung der Welt ist ihr Wie: Herbarts elementa-re Einsicht
freizulegen unterm technokratischen Gestrüpp, das aus seiner radikal
verfehlten Metaphysik wuchert – das ist die Aufgabe des fälligen
pädagogischen Neuanfangs. Die äs-thetische Auffassung der Pädagogik läßt
sich allein kritisch begründen; allerdings auch nur sie.
_______________
63] Fichte an Schiller, 27. 7. 1795; in: Fichte, Briefe, Bln. (O) 1986, S. 154
[64] Kant, Kritik der Urteilskraft; aaO, S. 417; 413
[65] Fichte, Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung (1798) in Philosophisches Journal Bd. VIII (1798); neu: SW Bd. V, S. 186; 185
[66] ders., Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie (1813); Hamburg 1993, S. 52; 50; 143; 53
[67] ders., Allgemeine Pädagogik…, hier zit. nach: (Hg. Holstein) Bochum 983, S. 103
[68] ders., Allgemeine praktische Philosophie (1808) in: SW Bd. 8, Hamburg 1890, S. 29; 23
[69] ders., Über die ästhetische Darstellung der Welt als das Hauptgeschäft der Erziehung; hier zit. nach: Gerhard Müßener (Hg.), S. 108
[70] ebd, S. 107
71] Phaidon IV, 72e-74a
[72]
Mit dem kritischen (‚transzendentalen’) Idealismus ist übrigens eine
andere als eine rein ‚materialistische’, streng auf Erfahrungstatsachen
gegründete Naturwissenschaft nicht vereinbar; geschweige denn eine
übersinnliche ‚Weltursache’.
[73] Herbart, Hauptpunkte der Metaphysik (1806), SW Bd. 3, 1884
[74] ders., Einleitung in die Philosophie, S. 330
[75] Politeia VII, 514a-518b
[76] Streng genommen handelt es sich also gar nicht mal um ‚Realismus’; vgl. W. Windelband/H. Heimsoeth, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, Tübingen 1950, S. 488
[77] F. an Schelling am 22. 10. 1799; Briefe, S. 270
[78] Herbart, Einleitung…, S. 66-80
[79] gr. Philosophenschule im süditalienischen Elea, im 5. Jhdt. v. Chr.: Xenophanes, Parmenides, Zenon
[80] Herbart, Die ästhetische Darstellung…, S. 118
[81] ebd, S. 103
[82] ebd, S. 115
[83] ders., Aphorismen zur Pädagogik, SW Bd. 11, 1892; S. 430
[84] ders., Allgemeine Pädagogik, S. 89
[85]
H. hat diese technische Seite in einem Gebäude von mathematischen
Gleichungen formalisiert; gemäß dem über Leibniz von Descartes
übernommenen Wissenschaftsprogramm. Vgl. Lehrbuch zur Psychologie (1816); SW Bd. 5, 1886; S. 15-36
[86] an ihrer Spitze Tuiscon Ziller (1817-1882) und Wilhelm Rein (1847-1929)
Nota. Die obigen Fotos gehört mir nicht, ich habe sie im Internet gefunden. Wenn Sie
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