
Klein ist das Reich des Virtuosen
Mit Leidenschaft für französische und russische Komponisten – und gegen Richard Wagner: Die Texte zur Musik von Vladimir Jankélévitch beziehen Stellung.
von Andreas Mayer
Die umsichtige Textauswahl dieses Bandes führt dabei überzeugend vor, wie sehr die Themen, um die Jankélévitchs Schreiben unablässig kreist, miteinander verbunden sind. Im Zentrum dieses Schreibens steht die Musik, die mit der Philosophie gemein hat, dass sie aus utilitaristischer Perspektive als nutzloses Unterfangen erscheinen muss: Zweifellos kann man auch „ohne Philosophie, ohne Musik, ohne Freude und ohne Liebe“ leben. „Aber nicht so gut.“ Bei der Einführung in Philosophie und Musik spielte das Elternhaus eine prägende Rolle: Der aus Russland emigrierte Vater Samuel veröffentlichte neben seiner ärztlichen Tätigkeit auch philosophische Abhandlungen in der „Revue de métaphysique et de morale“ sowie an die vierzig Übersetzungen aus dem Englischen, Russischen, und Deutschen, darunter Hauptwerke Fichtes, Schellings und Hegels, aber auch des in Frankreich damals noch nicht übersetzten Sigmund Freud. Wie wichtig Samuel Jankélévitch für den Werdegang seines Sohnes war, zeigt sich nicht nur an dessen früher Hinwendung zur Philosophie Schellings – Thema seiner 1933 verteidigten Dissertation –, sondern auch am täglichen Austausch von Gedanken und Lektüren.
Die Grundlagen zur musikalischen Kultur des jungen Philosophen legte weitgehend die ältere Schwester Ida, die nach ihrem Studium am Pariser Conservatoire in enger Beziehung zu Darius Milhaud und der Groupe des Six stand und in den Pariser Salons regelmäßig mit Marcelle Meyer vierhändig Klavier spielte. Vladimir Jankélévitch wurde so insbesondere in den zwanziger Jahren in eine intellektuelle und musikalische Welt hineinsozialisiert, in deren Salons Henri Bergson, Paul Valéry und Bertrand Russell ebenso zu Gast waren wie Erik Satie, Francis Poulenc oder Maurice Ravel. Es ist daher nur sinnfällig, wenn in diesem Band Texte aus den fünfziger Jahren über die Einfachheit und die Freude in der Philosophie von Bergson neben einer Abhandlung zur Gleichmut in der Musik Gabriel Faurés stehen. Jankélévitch kontrastiert die Gelassenheit und Ruhe, die sich in der ästhetischen Position des französischen Komponisten ausdrückt, mit der tragischen Zerrissenheit der Romantik, indem er dessen Neubestimmung von musikalischen Genres wie dem Nocturne oder der Berceuse auslotet.
Der am Anfang des Bandes stehende musikalisch-philosophische Essay „Das Nocturne“, der 1942 während Jankélévitchs Zeit in der Résistance heimlich gedruckt wurde, nimmt dabei eine Schlüsselposition ein: Er enthält bereits das zentrale Thema der als „nächtlich“ bestimmten Musik, die sich sowohl der tätigen Sphäre des Menschen als auch einem philosophischen Rationalismus oder Systemgedanken entgegensetzt. Die Leidenschaft, mit der Jankélévitch für eine Reihe von französischen und russischen Komponisten eintritt – insbesondere Fauré, Debussy, Ravel und Mussorgski –, entspricht dabei seiner Entscheidung, die deutsch-österreichische Musik mit keinem Wort mehr zu erwähnen. Die Namen Wagner und Richard Strauss, die in frühen Versionen seiner Schriften noch mit polemischen Äußerungen bedacht werden, verschwinden. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg gilt Jankélévitch Faurés Musik mit ihrer „sanften Kraft“ und ihrer „frühlingshaften Frische“ vor allem als Gegengift gegen die „unsaubere Rhetorik“ der Wagner’schen Tetralogie: „Die Menschenfresser und die Walküren unseres Alptraums sind schon nur noch zitternde Phantome. Selbst ihr Name soll vergessen werden!“
Die Gurgel der Primadonna
Im Bereich der Philosophie vollzieht sich der Bruch nicht nur mit dem Stillschweigen, mit dem Heidegger gestraft wird, sondern auch durch die Distanz zu den von diesem beeinflussten und in der Nachkriegszeit dominanten Pariser Intellektuellen wie Sartre oder Merleau-Ponty, für die Jankélévitch noch in seinem letzten, hier erstmals auf Deutsch abgedruckten Interview harte Worte fand. Wie nicht nur dieser Text vorführt, wäre es zu einfach, seine ästhetischen und politischen Stellungnahmen pauschal auf einen „Antigermanismus“ zurückzuführen. Wenn sich auch ab den fünfziger Jahren kaum noch deutsche Namen in seinen Schriften finden, tauchen an zentralen Stellen dennoch Schelling, Georg Simmel und selbst Nietzsche auf. Und im Bereich der Musik behalten Schubert und Schumann, auch wenn sie nur gelegentlich erwähnt werden, dennoch ihren besonderen Platz.
Ein wesentlicher Teil von Jankélévitchs musikphilosophischen Schriften ist Reflexionen über den Status und die Praxis der Interpreten gewidmet. In den beiden großen Essays über die Improvisation (1955) und die Virtuosität (1979) wird deren Rolle als zwiespältig bestimmt. Vehement und mit Worten, die auch heute nichts von ihrer Schärfe verloren haben, richtet sich Jankélévitch gegen einen zum Spektakel verkommenen Konzertbetrieb, in dem das Publikum der Fingerfertigkeit des Instrumentalisten oder der geläufigen Gurgel der Primadonna applaudiert. „Die Virtuosität kreist ein kleines Reich des Ruhmes ein, ein Reich, dessen Zwergkönig für einen Abend der Virtuose ist, ein lärmendes Reich voller Geschrei und Hochrufe!“ Siege, die jedoch nichtig und vergänglich sind. Denn wer kennt heute noch Sigismund Thalberg, der einst als Klaviervirtuose mit Liszt wetteiferte? Doch gelangt Jankélévitch auch zu einer positiven Bestimmung von Virtuosität und ihrer poetischen Kraft, die sich vor allem im vielfältigen Werk von Franz Liszt manifestiert, den er als den schlechthin modernen Komponisten und Interpreten seiner selbst bestimmt. Ihre weitere Ausprägung erfahre sie im zwanzigsten Jahrhundert, bei Debussy, Ravel, Prokofjew und Rachmaninow, die jeweils auf ihre Weise die Ernsthaftigkeit des Spiels und die „Tiefe des Scheins“ wiederentdeckten.
Vladimir Jankélévitch: „Zauber, Improvisation, Virtuosität“. Schriften zur Musik. Hrsg. von Andreas Vejvar. Aus dem Französischen von Ulrich Kunzmann. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 422 S., br., 24,– €.
Nota. - Kann man als Philosoph die Musik theoretisieren oder kann man als Musiktheore-tiker philosophieren? Einer, der Philosoph ist, kann nebendem auch ein Musiktheoretiker sein, und ein Musiktheoretiker kann nebendem auch philosophieren; nicht aber das eine als das andere. Ästhetisches Wahrnehmen mag den Horizont des Philosophierers weiten und an die genetische Gemeinsamkeit von Ästhetik und Vernunft anknüpfen; doch dass Ver-nunft, die im Zweifel, der bei ihr die Regel ist, nicht auf den Begriff verzichten kann, zu ästhetischer Betrachtung* taugt, bestreite ich.
Ich vermute daher, dass Jankélévitch auf französische Weise geistreich, graziös und wort-gewandt schreibt - aber auf dem einen Gebiet so wenig systematisch wie auf dem andern. Individuell eben, geschmacksbetont und gern die herrschende Meinung herausfordernd. Und ich vermute außerdem, dass das seinen musikalische Schriften viel besser zu Gesicht steht als den philosophischen.
Auch das ist ganz individuell gesagt und geschmacksbetont: Mit Wagner hat sich die euro-päische Musikgeschichte endgültig in zwei Lager getrennt, und es trifft sich, dass ich neben seiner Abneigung gegen jenen auch die Sympathie mit Gabriel Fauré teile - und seine Freundschaft zu den Six und sein Desinteresse für die Atonalen.
Aber in Ermangelung eines Systems eine Doktrin daraus zu machen, dürfte ihm schwer-fallen. In Frankreich gilt Fauré als "der französische Brahms", der dort ganz richtig vor allem als Kammermusiker... ja ich möchte schon sagen: populär ist - und zu Lebzeiten als der wahre Gegner Wagners galt. Gelassen und gleichmütig war am Ende auch er, aber als Romantiker gilt er doch. Er war auch so deutsch wie Wagner und war ein begnadeter Pianist wie dessen Schwiegervater Liszt, ohne sich je zum Virtuosen herabzulassen. Diesen lehnte er noch heftiger ab als den Schwiegersohn. Und so ich auch. Das unterscheidet mich von Jankélévitch auch geschmacklich.
Und hier vermute ich, er meint vornehmlich Liszts allerletzte Klavier-solo-Stücke, aus denen mancher eine Vorahnung von Debussy heraushört, und die die monströse Wag-ner'sche Formlosigkeit fast vergessen machen.
*) Im Ästhetischen ist das Ungewisse die Regel; aber die Geschmacksurteile gelten je in-dividuell - weil es, anders als bei der Vernunft, keine höhere Instanz gibt, die sie bestreiten oder bekräftigen könnte.
JE
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