Donnerstag, 15. Oktober 2020

Die rationale Fiktion.

                                                                                          aus Philosophierungen

Dem diskursiven Denken liegt als Prämisse die ungeahnte Fiktion zugrunde, der logische Raum – Ein und Alles sei eine geschlossene Sphäre,  deren Umfang lückenlos von Begrif-fen angefüllt ist, die einander wechselseitig bestimmen. 

In unserer wirklichen Vorstellung ist die Welt hingegen ein'zwar endlicher, aber unbegrenz-ter'Raum, in dem Bedeutungen teils so nah bei einander liegen, dass sie einander berüh-ren, ineinander verfließen und bei genauem Hinschauen gar nicht recht zu unterscheiden sind; und teils ganz beziehungslos neben einander liegen ohne ein Drittes, an dem sie we-nigstens zu vergleichen wären.

Das logische Ein und Alles verhält sich zum wirklichen Vorstellen etwa so, wie die Welt des naturwissenschaftlichen Labors zu den Dingen unseres Mesokosmos.


ca. 2009



Die ungeahnte Fiktion nehmen wir in Anspruch, wenn und wo wir uns vernünftig verhalten wollen. Nicht, dass wir glaubten, dass es wirklich so ist; aber wir handeln doch so, als ob es so sei. 

Das sind die sonntäglichen Momente in unserm geschäftigen Alltag. Normalerweise reicht uns ein Ungefähr, um tagein tagaus zurechtzukommen. Der scharfe Konflikte, der nur auf Messers Schneide zu entscheiden wäre, ist gottlob die Ausnahme. Doch nur, weil Vernunft uns ausnahmsweise in jedem Fall zuhanden oder doch zu Kopfe ist, können wir unser all-tägliches Ungefähr riskieren.*

Das ändert nichts daran, dass ein fertiges System der Vernunft immer eine Fiktion bleibt. Nur weil wir meinen, an sich sei die Welt ein wechselwirkendes System aus realen Teilchen, die zugleich Bedeutungs-Partikel darstellen, und insgesamt einen Sinn hat, der unabhängig davon ist, ob ihn jemand einsieht - nur darum ist es möglich, dass wir uns in unserer All-tagsroutine regelmäßig verständigen und nach heftigem Kampf am Ende meist noch eine Friedenslösung finden. Indem sie zeigt, wie sie zustande kam, stellt die Transzendentalphi-losophie klar, dass es sich um eine Fiktion handelt.

Wozu ist das gut? Um dem Missverständnis abzuhelfen, im Sein der Dinge sei irgend ein Sinn eingeschlossen.

"Ihr Hauptnutzen ist negativ und kritisch. Es mangelt in dem, was nun gewöhnlich für Le-bensweisheit gehalten wird, nicht daran, daß sie zu wenig, sondern daran, daß sie zu viel enthält. Man hat eben die erräsonierten Sätze der oben beschriebenen erschaffenden Meta-physik hereingetragen – und diese sollen [wieder heraus] gesondert werden. Sie hat die Bestim-mung, die gemeine Erkenntnis von aller fremden Zutat zu reinigen... Für die theoretische Philosophie, Erkenntnis der Sinnenwelt, Naturwissenschaft ist sie regulativ. Sie zeigt, was man von der Natur fragen müsse.**

Ihr Einfluß auf die Gesinnung des Menschengeschlechts überhaupt ist, daß sie ihnen Kraft, Mut und Selbstvertrauen beibringt, indem sie zeigt, daß sie und ihr ganzes Schicksal ledig-lich von sich selbst abhängen; indem sie den Menschen auf seine eignen Füße stellt."

*) Das so genannte Zeitalter der Vernunft begann, als in den Verträgen von Münster und Osnabrück der Westfälische Frieden geschlossen wurde. Nachdem GOtt dreißig Jahre lang für Mord und Verwüstung gesorgt hatte, musste als vertrauenswürdiger Bürge nun die Vernunft in die entstandene Lücke treten..

**) aus Rückerinnerungen, Antworten, Fragen [S. 123]
JE, 30. 1. 19

 

Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE 

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