Montag, 26. Oktober 2020

Wie kann etwas durch sein bloßes Dasein wirken?

  V                                   aus Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

c. Zuvörderst  der schwierigste Punkt: Wie kann überhaupt etwas durch sein bloßes Dasein im Raume, ohne alle Bewegung, wirken?

Die Einwirkung soll geschehen durch ein vernünftiges Wesen als solches; sie muss daher geschehen nicht durch unmittelbare Berührung und Hemmung seines niederen Organs, sondern auf sein höheres, demnach vermittelst der subtileren Materie. Nun ist oben von dieser allerdings angenommen, dass sie ein Mittel der wechselseitigen Einwirkung vernünf-tiger Wesen auf einander sei - dadurch, dass sie durch eine Bewegung des höheren Organs selber modifiziert würde. 

Das aber soll der Fall hier nicht sein. Ein menschlicher Leib soll in seiner Ruhe, ohne alle Tätigkeit, eine Einwirkung hervorbringen: Die subtilere Materien muss daher in unserem Falle so gesetzt werden, dass sie durch die bloße ruhende Gestalt modifiziert werde, und zufolge der erhaltenen Modifikation den höheren Sinn eines möglichen anderen Wesens modifizieren. -

Der menschliche Leib wird bis jetzt bloß als Gestalt im Raume betrachtet, mithin muss das von ihm Erwiesene für alle Gestalt gelten und so gesetzt werden.
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J. G. Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, SW Bd. III, S. 75


 
Nota. - Das ist ja haarsträubend! Merkt er nicht, dass er sich über beide Ohren in das Reich metaphysischer Bleigießerei begeben hat? Dass es geschehen musste - nämlich seiner Bedeu-tung nach -, hat die Transzendentalphilosophie als - nach ihren Voraussetzungen - notwen-dig nachzuweisen. Dass es geschehen ist, beweist das historische Faktum der Vernunft. Wie es geschen konnte, haben die reellen Wissenschaften aufzuklären. Es liegt außerhalb der Transzendentalphilosophie.

Der Geisteswissenschaftler Dilthey spricht von "objektivem Geist", der Kulturphilosoph Ernst Cassirer spricht von "symbolischer Form", und beide gehen sie historisch und phä-nomenologisch an ihren Gegenstand. Sie waren als historische Realwissenschaftler, jeder auf seine Art, Kantianer, aber Transzendentalphilosoph war der eine so wenig wie der andere. Sie haben nach kritizistischen Prämissen am historischen Material gearbeitet, gottlob

Dafür, dass F. sich damit nicht bescheidet, gibt es keinen Grund; aber er hatte ein Motiv. Wenn er Vernunft nicht als von vorn bis hinten gemacht auffassen kann - wozu er ihre Ge-neratio aequivoca in der bürgerlichen Gesellschaft, nämlich in der Ausbildung des Marktes hätte lokalisieren müssen -, sondern sie doch irgendwie für vorgegeben halten will und also nicht durch ein Tun, sondern ein Sein überliefert ansehen muss, dann... muss er aufs physi-sche Material setzen. 

Es ist bemerkenswert, dass er an dem Punkt, wo er die Transzendentalphilosophie verlässt, zu einem dogmatischen Materialisten wird. Immerhin nicht zum Spiritualisten - oder gerade doch auch?
JE, 29. 4. 19

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