aus nzz.ch, 12. 9. 2021 anonymes und undatiertes Porträt zu Geschmackssachen; zu Jochen Ebmeiers Realien
Der erste Beweger als Ursache alles Seienden hatte bereits die antike Philosophie in Atem gehalten. Thomas von Aquin (1225–1274) war es dann nach Aristoteles gelungen, antike, christliche und arabische Vorstellungen über Gott, die Schöpfung und darin die Rolle des Menschen in ein kohärentes Denksystem einzubinden, das mit der klassischen Physik ebenso wie mit den herrschenden theologischen Glaubensannahmen harmonierte. Doch für ein «poetisches», den Geist und die Phantasie wahrhaft erfrischendes Verständnis dieser komplexen Daseinsfragen musste die Welt auf Dante Alighieri (1265–1321) warten.
«L’amor divino / mosse da prima quelle cose belle» lesen wir bereits im ersten Gesang der «Commedia». Mit «diesen schönen Dingen», die hier durch Gottes Liebe zu seiner Schöpfung in Bewegung geraten, sind die Sterne des Himmels gemeint. Niemand braucht sich den Kopf darüber zu zerbrechen, ob dies für uns Menschen eine physikalische, eine theologische oder «nur» eine poetische Sichtweise erfahrener Realität ist.
In
der allerletzten Terzine von Dantes «Commedia» greift der Dichter diese
Vorstellung noch einmal auf: Angesichts der göttlichen Schönheit
versagt menschliche Vorstellungskraft. Jetzt bewegt nur noch etwas
unsere Wünsche und unseren Willen: «L’amor che move il sole e l’altre
stelle» – die Liebe, die die Sonne und die anderen Sterne wie ein sich
gleichmässig drehendes Rad in Bewegung hält.
Wenn
Dante-Leser in Italien von «La fortuna di Dante»
sprechen, verstehen sie darunter die ziemlich einmalige Tatsache, dass
Dantes Werk von Anbeginn italienweit, dann bald europaweit und innerhalb
weniger Jahrhunderte sogar weltweit auf anhaltend wachsendes Interesse
gestossen ist. Dantes Leben als Politiker, Diplomat, Gelehrter und
Dichter war aufgrund seiner Verbannung und des Todesurteils, das seine
Gegner in Florenz gegen ihn und seine Familie aussprachen, schwierig und
entbehrungsreich. Sein Exil dauerte wohl von 1304 bis zu seinem Tod
1321.
Als
Dichter jedoch war und blieb Dante ein «fortunato»: ein vom Glück
Begünstigter. Bereits zu seinen Lebzeiten begannen seine nicht in
Latein, sondern in der toskanischen Landessprache verfassten Schriften
an den Höfen Oberitaliens in Abschriften zu kursieren. Es war Dante
trotz allen Anfeindungen und Missgeschicken vergönnt, sein grösstes
Unternehmen, sein Gedicht in 100 «Gesängen» über seine Reise durch die
Hölle zum Läuterungsberg und in die Himmelssphären in Begleitung von
Vergil und seiner Muse Beatrice, zu vollenden. Dante nannte sein Werk
schlicht «Commedia», der Nachwelt aber schien dieses Werk in Umfang und
Anspruch so aussergewöhnlich, dass man es in «La Divina Commedia»
umtaufte.
Dantes «Fortuna» bestand vor allem auch darin, dass sich in florentinischen Gelehrtenkreisen rasch eine Interessengemeinschaft um sein Werk bildete. Die Sicherung, Verbreitung und Deutung von Dantes Schriften, zumal der «Commedia», setzte bereits nach seinem Tod ein. Sie ist bis heute nicht mehr abgebrochen.
Bei meiner Entdeckungsreise durch die Weltliteratur hat auch mich nichts derart erschüttert und zum Staunen gebracht wie die Lektüre von Dantes «Commedia». Es blieb dies eine anhaltende Erfahrung. Dieses Buch ist nie hinreichend ausgedeutet und verstanden. Jede neue Begegnung macht den Lesenden klar, dass trotz den professionellen Kommentaren aller weltweiten Dante-Experten Rätsel und Fragen bleiben – und in geradezu magischer Weise aus dem Originaltext nachwachsen.
Einer der wichtigsten Dantisten war für mich Erich Auerbach (1892–1957). Dante sei der begabteste Realist unter den Dichtern, schreibt Auerbach, weil er – wie kein anderer vor ihm – fähig gewesen sei, uns das höchst Individuelle eines Menschen in seinen positiven und negativen Schattierungen und Merkmalen zur Anschauung zu bringen. Wie Dante Liebende, Hassende, Ehrgeizige und Machtgierige, ja wie er feige Lügner, Betrüger, Verräter ebenso wie hingebungsvolle und heiligmässig Lebende zeichnete, zeugt von Menschenkenntnis der einfühlsamsten Art. Dante machte sich gerade im Exil über das göttliche wie das dämonisch-teuflische Potenzial jedes Menschen keinerlei Illusionen.
Der Denkanstoss für Dantes Zeitgenossen muss gewaltig gewesen sein. Als Dante starb, war Francesco Petrarca, der Notarssohn aus Arezzo, ein 17-jähriger Student der Rechtswissenschaften in Bologna. Er gab dieses Studium bald auf, begann eine kirchliche Karriere, entdeckte jedoch den noch grösseren Reiz eines Gelehrtendaseins und entwickelte zum ersten Mal in der Geschichte so etwas wie eine Daseinsform und Kultur für Solitäre.
Anlass dazu boten auch die Lebensumstände in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts: Kriegerische Auseinandersetzungen um Papst- und Kaisertum, die Regierungszeit der Päpste in Avignon (1309–1378), der Ausbruch der Pest um 1348, der wild aufflammende Antisemitismus – europaweit fügte sich ein Ungemach ans andere.

Petrarca nannte die Sammlung selbst «Rerum vulgarium fragmenta», also hielt er sie – im Gegensatz zu seinen lateinisch verfassten Lehrschriften und Briefen – für «Bruchstücke volkstümlicher Dinge». Über die Art der Zuneigung, die Petrarca vonseiten seiner in höchsten Tönen besungenen und angebeteten Laura erfuhr, sind sich die Experten nicht einig. Dass er nach Dante der bedeutendste Dichter der beginnenden Neuzeit wurde, gleichsam «ein Erasmus vor der Zeit», bestreitet aber kaum jemand.
Petrarcas Beziehung zu Dante war keine von reiner Bewunderung. Vermutlich waren ihm Dantes kosmisch-theologische Spekulationen zu systemtreu und zu wenig «ich-markiert». Auch Dantes Wahl der «lingua volgare» zur Darstellung der höchsten Geheimnisse der Schöpfung war dem von der überlegenen Eleganz und Würde des Lateinischen überzeugten Humanisten Petrarca sicher zu «vulgär». Und der sich rasch verbreitende Ruhm Dantes war dem von Neidgedanken nicht immer verschonten Petrarca wohl auch ein Stachel im Fleisch.
Das war anders bei Petrarcas direktem Zeitgenossen und diesem freundschaftlich verbundenen Giovanni Boccaccio (1313–1375), den man in der Tat als den ersten «Dantisten» seiner Zeit bezeichnen darf.
Wir kennen Boccaccio heute vor allem als genialen Verfasser des «Decamerone», als Erzähler von Gottes Gnaden über alles, was Menschen erlaubt und verboten ist. Der junge Mann aus dem toskanischen Certaldo hatte seine Kaufmanns- und Banklehre in Neapel gemacht und seine Phantasie sich in Gedichten und Epen, aber auch in Prosaromanen austoben lassen.
Die berühmte Novellensammlung entstand in den Jahren 1348 bis 1351, als er zurück in Florenz war, wo die schwarze Pest wütete. Der Briefkontakt und die Begegnungen mit Petrarca führten dazu, dass Boccaccio sich dem Studium der alten Sprachen und der klassischen Autoren zuwandte und so für seine Zeitgenossen zu einem grossartigen Vermittler zwischen klassischer Bildung und Volkskultur wurde.

Was Boccaccio – im Gegensatz zu Petrarca – für Dante tat, war grandios. Er hat mehrfach Dantes «Commedia» und seine «Vita Nuova» abgeschrieben und für deren Weiterverbreitung gesorgt. Er war auch der Erste, der eine Biografie und eine Würdigung von Person und Werk verfasste. Die Stadt Florenz beauftragte ihn 1373, öffentliche Lesungen von Dantes Werken zu veranstalten.
Boccaccio ist der Vater dessen, was man inzwischen auf der ganzen Welt als «Lectura Dantis» bezeichnet: das laute Lesen der Verse, zumal von Dantes «Commedia», einschliesslich Kommentierung und Deutung. Kein anständiges romanistisches Seminar der Welt verdient diesen Ruf, wenn es den Studierenden keine kontinuierliche «Lectura Dantis» anbietet. Mehr kann kein Nachfolger der Dichtkunst für einen von ihm bewunderten Vorgänger tun, als dafür zu sorgen, dass dessen Verse in lebendigster Erinnerung bleiben.
Und noch ein letzter Hinweis auf etwas, was Dantes grosser Geist mit seiner
Die drei Dichter haben die Kraft gespürt und gestaltet, die von dem ausgeht, was man im Leben mehr als alles andere sucht. Dies in so wunderbarer Weise, dass wir armen Männer von heute immer noch ihren Visionen weiblicher Glücksversprechen und Schönheit nachträumen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen