
aus NZZ, 11. 3. 2014 zu Jochen Ebmeiers Realien
Paul Hoyningen-Huene skizziert eine Theorie der «Systematizität»
von Karim Bschir · Die
Wissenschaft spielt zweifellos eine bedeutende Rolle in unserer
Gesellschaft. Doch was ist eigentlich Wissenschaft? Was zeichnet diese
so wichtige und vielfältige menschliche Praxis als solche aus? Auch die
Philosophie hat sich diese Frage seit der Antike immer wieder gestellt.
Dies führte nicht selten zu dem Versuch, Wissenschaft durch eine ganz
bestimmte Methode zu charakterisieren und so von anderen Formen des
Wissens abzugrenzen. Man denke dabei etwa an den Positivismus des Wiener
Kreises oder an Karl Poppers berühmte Methode der Falsifikation. Es gab
allerdings auch Stimmen, die sich gegen diesen Versuch ausgesprochen
haben. So hat Paul Feyerabend darauf hingewie-sen, dass ein genauer Blick
auf die Geschichte und die tatsächliche Praxis der Wissenschaft zeige,
dass diese allenfalls dem Prinzip des «anything goes» folge und dass so
etwas wie «die wissenschaftliche Methode» nicht existiere.
Der in Hannover lehrende
Wissenschaftsphilosoph Paul Hoyningen-Huene gibt in seinem Buch
«Systematicity - The Nature of Science» der Frage nach dem Wesen der
Wissenschaft eine neue Wendung. Im Gegensatz zu Feyerabend, der aus der
Annahme, die Wissenschaft folge keiner einheitlichen Methode, den
Schluss zog, dass sie sich durch nichts von anderen menschlichen
Tätigkeiten und Wissensformen unterscheide, ist Hoyningen-Huene sehr
wohl vom eigenständigen Charakter der Wissenschaft überzeugt. Obschon er
eingesteht, dass es keine allgemeine Definition von
Wissenschaftlichkeit gebe, glaubt er, dass wissen-schaftliches Wissen
sich durch ein besonderes Merkmal von anderen Formen des Wissens
unterscheide: durch sein höheres Maß an Systematizität.
Im ersten Teil des Buches wird jede der neun Dimensionen genau unter die Lupe genom-men. Dabei wird deutlich, dass nicht jede wissenschaftliche Disziplin, um als solche zu gelten, sich zwingend in allen neun Dimensionen auszeichnen muss. So gelingt es dem Autor, seine These nicht nur auf die Naturwissenschaften, sondern ebenso auch auf die Geisteswissenschaften anzuwenden, insofern auch Letztere in mancherlei Hinsicht einen hohen Grad an Systematizität an den Tag legen. Im zweiten Teil vergleicht er seine Theorie mit den Positionen von Aristoteles, Descartes, Kant, dem logischen Empirismus, Popper, Kuhn, Feyerabend und mit jener des amerikanischen Philosophen Nicholas Rescher: Die Genannten hätten wichtige Beiträge zum Verständnis von Wissenschaft geleistet, seien allesamt auf die eine oder andere Weise einseitig gewesen. Die Systematizitätstheorie erhebt damit - wenig verwunderlich - den Anspruch, vollständiger zu sein als alle vorhergegange-nen Wissenschaftstheorien. Und in der Tat: Mit dem Buch Paul Hoyningen-Huenes liegt nun eine allgemeine Wissenschaftsphilosophie vor, die der Vielfalt der Wissenschaft gerecht wird, ohne dabei in Einseitigkeiten oder Relativismus abzugleiten.
Die zahlreichen Beispiele, die der Argumentation zur Seite gestellt sind und die von Physik, Astronomie, Geometrie, Geografie, Geologie und Meteorologie bis hin zu Soziologie, Lite-raturtheorie, Anthropologie und Ökonomie reichen, machen das Buch umso anschaulicher und lesenswerter. Trotz der Fülle des Materials behält der Text stets die grosse Frage im Auge, was die Wissenschaft als ganze auszeichne; und diese Frage ist gewiss nicht nur für einen esoterischen Kreis von Philosophen interessant.
Paul Hoyningen-Huene: Systematicity - The Nature of Science.
Oxford University Press 2013. 304 S., $ 58.50.
Nota I. - Systematizität ist erst sekundär Charakter der Wissenschaft. Sie ist Bedingung da-für, dass sich die Einzelwissenschaften zu öffentlichem Wissen entwickeln können, weil sie nur so allgemein zugänglich und miteinander vergleichbar sind. Wäre jede einzelne Wissens-disziplin ein eigenes Labyrinth, blieben sie esoterisch, weil nicht von außen kritisierbar. Sie wäre Unwissenschaft.
Historisch betrachtet, hat der Autor natürlich Recht: Nur indem sich die Einzeldisziplinen um Systematik bemühten, wurden sie vergleichbar und wurden sie allgemeines, öffentliches Wissen.
11. 3. 14
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