aus spektrum.de, 13. 9. 2021 zu Jochen Ebmeiers Realien
Rezension
Der letzte Universalgelehrte
Nach mehr als 100 Jahren erscheint eine längst überfällige Biografie des renommierten Wissenschaftlers Hermann von Helmholtz.
von Doris Becher-Hedenus
David Chahan
Helmholtz
Ein Leben für die Wissenschaft
Verlag: wbg Theiss, Darmstadt 2021
ISBN: 9783806243123 | Preis: 89,00 €
Hermann
von Helmholtz war einer der herausragendsten Naturforscher des
19. Jahrhun-derts. Als Mediziner, Physiologe, Mathematiker und Physiker
erzielte er in allen Gebieten bedeutende Ergebnisse und wird daher mit
Recht als der letzte Universalgelehrte bezeich-net.
Am
bekanntesten dürfte der Energieerhaltungssatz sein, den er bereits im
Alter von 26 Jahren formulierte. Allgemein bekannt ist auch die
Erfindung des Augenspiegels, des ersten medizinischen Instruments, mit
dem man in das Innere eines lebenden Organs schauen konnte. Die Messung
der Reizleitungsgeschwindigkeit in Nervenfasern ist nur eine seiner
Errungenschaften in der Psychophysik.
Helmholtz starb 1894 hoch geehrt in Berlin. Eine Biografie von Leo Königsberger erschien bereits acht Jahre später und blieb über 100 Jahre lang maßgeblich. Eine umfassende Würdi-gung war daher mehr als überfällig – und ein großer Verdienst David Cahans, der seine jahrzehntelangen Studien mit diesem 1000-seitigen, äußerst detailreichen Monumentalwerk komplettiert.
Cahan war Professor für Wissenschaftsgeschichte an der Universität Nebraska-Lincoln und ist einer der führenden Helmholtz-Spezialisten. Er hat bereits mehrere Bücher und Abhand-lungen über ihn verfasst, die auch als ergänzendes Material zur Biografie dienen.
Der
Ausnahmewissenschaftler Helmholtz wurde zunächst Professor für Anatomie
in Heidelberg, wo er sich anfangs vor allem der Sinnesphysiologie
zuwandte. Doch nach und nach widmete er sich vermehrt der Hydro- und
Elektrodynamik. Nach dem Tod seines Kollegen Gustav Magnus erhielt er
dessen Professur für Physik in Berlin. So trug er auch in der Lehre dazu
bei, die kommenden Physikergenerationen mit der Elektrodynamik vertraut
zu machen. Zu seinen Doktoranden zählten etwa Heinrich Hertz, Wilhelm
Wien, Albert Michelson und Max Planck. 1877 wurde er Rektor der Berliner
Universität und zehn Jahre später erster Präsident der neu gegründeten
Physikalisch-Technischen Reichsanstalt, die er bis zu seinem Tode
leitete. Das könnte Sie auch interessieren: Spektrum Kompakt: Röntgen – Strahlung für den Durchblick
Helmholtz beherrschte selbstbewusst seine Forschungsgebiete.
Solcher Stolz übertrug sich in Folge auch auf andere Naturwissenschaften
(zuvor genossen vor allem die Geisteswissen-schaften einen guten Ruf)
und verhalf ihnen zu gesellschaftlicher Akzeptanz. Dennoch sah Helmholtz
sich als Kulturträger und nicht als Politiker. Als Wissenschaftler, der
auch großes Interesse für alle Arten der Kunst zeigte und über deren
naturwissenschaftliche Grundlagen philosophierte, war er daher der
Idealtypus des deutschen Gelehrten.
Nicht nur nebenbei entsteht dadurch auch ein Bild der sich verändernden wissenschaftlichen Landschaft, also Institutionalisierung, Disziplinbildung und Spezialisierung, die kennzeichnend für das 19. und wegweisend für das 20. Jahrhundert waren.
Cahan wollte zeigen, wie die kulturellen
und wissenschaftlichen Bedingungen Helmholtz prägten, er aber auch
umgekehrt diese mitgestaltete. Das in Fülle zu beschreiben, ist selbst
für ein großes Werk wie dieses keine leichte Aufgabe. So ist die
Formulierung des Energieerhaltungssatzes keine Einzelleistung von
Helmholtz, sondern eine Zusammenfassung von Ideen, die zu seiner Zeit
weit verbreitet waren. Es war Helmholtz' systematische und
erkenntnistheoretisch begründete Vorgehensweise, welche die
experimentellen Befunde auf ein neues fundamentales Prinzip
zurückzuführen vermochte. Die Geschichte des Energieerhaltungssatzes
allein könnte ein ganzes Buch füllen, doch bei Cahan nimmt sie nur
wenige Seiten ein. Das könnte Sie auch interessieren: Spektrum Kompakt: Kuriose Experimente
Die Beispiele zeigen, dass es selbst ein fast 1000-seitiges Buch nicht schaffen kann, dem Giganten Helmholtz umfassend gerecht zu werden. Dennoch stellt es einen Meilenstein seiner Rezeption dar.
Nota. - "Mediziner, Physiologe, Mathematiker und Physiker" - das konnte man erst seit dem 19. Jahrhundert, u. a. seit Helmholtz, einen Universalgelehrten nennen. Doch seit dem 20. schon wieder nicht mehr. Über die "philosophischen Grundlagen" der Physik habe er sich den Kopf zerbrochen... Einen Buchtitel nennt die Rezensentin nicht. Das kommt nicht selten vor, dass Naturwissenschaftler sich nach der Emeritierung aufs Spekulieren verlegen. Doch leider tun sie das in den seltensten Fällen als Gelehrte. Sollte Helmholtz hier etwa, wie sein jüngerer Kollege Ernst Mach, eine Ausnahme gewesen sein, hätte ich an dieser Stelle gerne mehr erfahren.
JE
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