aus Wissenschftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik
Jede mögliche / Wissenschaft hat einen Grundsatz,
der in ihr nicht erwiesen werden kann, sondern vor ihr vorher gewiss
seyn muss. Wo soll nun dieser Grundsatz erwiesen werden? Ohne Zweifel in
derjenigen Wissenschaft, welche alle möglichen Wissenschaften zu
begrün-den hat. – Die Wissenschaftslehre hätte in dieser Rücksicht
zweierlei zu thun. Zuvörderst die Möglichkeit der Grundsätze überhaupt
zu begründen; zu zeigen, wie, inwiefern, unter welchen Bedingungen, und
vielleicht in welchen Graden etwas gewiss seyn könne, und überhaupt, was
das heisse – gewiss seyn; dann hätte sie insbesondere die Grundsätze
aller möglichen Wissenschaften zu erweisen, die in ihnen selbst nicht
erwiesen werden können. ...
Die Wissenschaftslehre ist selbst eine Wissenschaft. Auch sie muss daher zuvörderst einen Grundsatz
haben, der in ihr nicht erwiesen werden kann, sondern zum Behuf ihrer
Mög-lichkeit als Wissenschaft vorausgesetzt wird. Aber dieser Grundsatz
kann auch in keiner anderen höheren Wissenschaft erwiesen werden; denn
dann wäre diese höhere Wissen-schaft selbst die Wissenschaftslehre, und
diejenige, deren Grundsatz erst erwiesen werden müsste, wäre es nicht.
Dieser Grundsatz – der Wissenschaftslehre, und vermittelst ihrer aller
Wissenschaften und alles Wissens – ist daher schlechterdings keines
Beweises fähig, d.h. er ist auf keinen höheren / Satz zurück zu führen, aus dessen Verhältnisse zu ihm seine Gewissheit
erhelle.
Dennoch soll er die Grundlage aller Gewissheit abgeben; er
muss daher doch gewiss und zwar in sich selbst, und um sein selbst
willen, und durch sich selbst gewiss seyn. Alle ande-ren Sätze werden
gewiss seyn, weil sich zeigen lässt, dass sie ihm in irgend einer
Rücksicht gleich sind; dieser Satz muss gewiss seyn, bloss darum, weil
er sich selbst gleich ist. Alle an-dere Sätze werden nur eine mittelbare
und von ihm abgeleitete Gewissheit haben; er muss unmittelbar gewiss
seyn. Auf ihn gründet sich alles Wissen, und ohne ihn wäre überhaupt
kein Wissen möglich; er aber gründet sich auf kein anderes Wissen,
sondern er ist der Satz des Wissens schlechthin.
Dieser Satz ist
schlechthin gewiss, d.h. er ist gewiss, weil er gewiss ist*.
Er ist der Grund aller Gewissheit, d.h. alles was gewiss ist, ist
gewiss, weil er gewiss ist; und es ist nichts gewiss, wenn er nicht
gewiss ist. Er ist der Grund alles Wissens, d.h. man weiss, was er
aussagt, weil man überhaupt weiss; man weiss es unmittelbar, so wie man
irgend etwas weiss. Er begleitet alles Wissen, ist in allem Wissen
enthalten, und alles Wissen setzt ihn voraus.
*) Man kann ohne Widerspruch nach keinem Grunde seiner Gewissheit fragen. handschr. Marginalie
________________________________________________________
J. G. Fichte, Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre, SW I, S. 46 ff.
Nota. - Richtiger müsste es heißen: Wissenschaft, nämlich begründetes Wissen, ist nur ein solches, das durch einen Grundsatz zusammengehalten wird; denn nur so stimmen seine einzelnen Bestimmung in ihrer Bedingung überein. - Sogleich müsste eine Aussage zur Ge-wissheit dieses Grundsatzes folgen, und der Satz verbreitert sich ins Uferlose...
Ein System entwerfen und es systematisch darstellen sind zweierlei. Der Begriff... war Fichtes erster Versuch, seinen Plan der Wissenschaftslehre öffentlich vorzutragen; und zwar, bevor er noch an die Ausarbeitung seines 'Systems' gegangen war. Doch ein unfertiges System als System darstellen geht schon garnicht.
Das wird ihm aber erst nach en ersten Fortschritten bei der Ausarbeitung bewusst werden. Hier geht er noch arglos wie die dogmatischen rationalistischen Systembauer vor Kant lo-gisch vor: Aus a folgt b, usw.. Noch als er in Jena die Wissenschaftslehre an der Universität vorgetragen hat, ist er so verfahren. Er trägt den - inzwischen 'dreifachen' - Grundsatz vor mit dem Bemerken, beweisen ließe er sich nicht. - Das könnte er aber erst am Schluss einer Ausarbeitung wissen; doch auch dann müsste er rechtfertigen, dass er ihn dennoch als Be-gründung nimmt.
Er könnte sagen: Ich habe ein System gebaut, und siehe, es steht! Also steht der Grund satz fest. Doch aus den Fingern gesogen wird er ihn am Anfang auch nicht haben. Da wär's ja ein reiner Zufall, dass er gleich beim ersten Versuch fündig geworden wäre; er hätte ja ewig suchen können, er hätte aber ebensogut mehrere ebenfalls 'dreifache' Grundätze finden können!
Und tatsächlich hatte er seinen dreifachen Grundsatz mittendrin eingeschoben - als er nämlich ein Grund gefunden hatte für die Annahme, dass ebendieser der Richtige sei. Er hatte nämlich nicht stillschweigend, sondern ausdrücklich die Resultate der Kant'schen Kritik vorausgesetzt - und war dann fortgefahren. Und zwar nicht Schrittchen für Schritt-chen, es war ein Sprung nötig geworden.
Das wird in der Grundlage nicht sichtbar. Er hatte die einzelnen Vorlesungen jeweils nach-einander ausgearbeitet und an seine Studenten 'als Handschrift'* verteilt. Ein Gesamtplan mag vorab in seiner Vorstellung gewesen sein; aber ausgearbeitet war er nicht. Es ist nur zu glaubwürdig, wenn F. versichert, er sei mit dieser Art der Darstellung sehr früh unzufrieden gewesen.
Und immer mehrfach machte er sich im Philosophischen Journal an eine neue Darstellung, doch wirklich durchgeführt hat er sie erst in der Wissenschaftslehre nova methodo, die er von 1787 bis 1799 zweimal an der Universität Jena vorgetragen hat. Abgeschlossen ist sein System auch jetzt noch nicht - der Atheismusstreit hatte ihn aufgehalten. Ich denke, er be-fand sich auf dem besten Weg. Das 'System' - das ist nicht eine Kugel, in der jeder Punkt mit jedem andern Punkt verbunden ist durch einen Mittel punkt hindurch; sondern ein Schweben zwischen zwei Polen, einem forttreibenden und einem anziehenden; ein unend-liches Übergehen aus einem absolut Unbestimmten (Ich) in ein anderes absolut Unbestimm-tes (Zweck) - wobei nur das Übergehende bestimmt und ein absoluter Zweck nur ästhetisch aufzufassen ist.
JE
Nota Das
obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie
der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht
wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen