
aus scinexx zu Geschmackssachen; zuJochen Ebmeiers Realien
Sinn fürs Gerade: Wir Menschen könnten einen einzigartigen Sinn fürs Regelmäßige besitzen – für die abstrakte Ordnung geometrischer Formen. Das legt ein Experiment nahe, in dem Menschen abweichende Muster umso besser erkannten, je geometrischer die Objekte waren. Selbst bei Angehörigen von Naturvölkern, die selten rechte Winkel sehen, trat dieser Geometrie-Effekt auf. Bei Pavianen hingegen fehlte er völlig, obwohl sie als Primaten eng mit uns verwandt sind.
In unserer modernen Zivilisation sind wir von regelmäßigen, geometrischen Formen umge-ben: Unsere Gebäude, technischen Geräte oder Gebrauchsgegenstädte haben meist rechte Winkel, parallele Kanten oder kreisförmige Flächen. Wir nehmen diese Formen als geord-net, angenehm und schön war und neigen instinktiv dazu, Dinge nach diesen abstrakten ge-ometrischen Vorbildern zu formen.
„Archäologische Funde deuten darauf hin, dass diese Verliebe für regelmäßige geometrische Formen schon so alt ist wie die Menschheit selbst“, sagen Mathias Sablé-Meyer von der Uni-versität Paris Saclay und seine Kollegen. „Der Mensch fühlt sich offenbar von den Haupt-merkmalen der euklidischen Geometrie angezogen.“
Aber warum? Ist dies nur eine Folge der kulturellen Entwicklung unserer Vorfahren oder steckt möglicherweise doch ein neurobiologischer Effekt dahinter? Und welche Vorteile könnte der Sinn für Geometrie für unsere Vorfahren gehabt haben? Um diese Frage zu klären, haben Sablé-Meyer und sein Team den Geometrie-Sinn von Menschen verschiede-ner Kulturen auf die Probe gestellt und ihn mit dem eines mit anderen Primaten verglichen – des Pavians.
Für ihre Studie nutzten die Forschenden den „Ausreißer“-Test: Allen menschlichen und tierischen Probanden wurden sechs willkürlich auf dem Bildschirm verteilte Vierecke prä-sentiert – fünf davon waren identisch, wenn auch gegeneinander verdreht. Die sechste Form wich in einem geometrischen Merkmal ab – es war beispielsweise ein Rechteck statt eines Quadrats oder ein Rechteck mit einer „verrutschten“ Ecke. Diesen Ausreißer galt es möglichst schnell zu erkennen und anzutippen.
Als Testpersonen dienten 605 Erwachsene und 1184 Kinder aus Frankreich sowie 22 An-gehörige des Naturvolks der Himba in Namibia. Sie leben in einer Umgebung, in der geo-metrische, künstliche Formen eher selten sind. Als Vergleichsgruppe wurden 26 Paviane auf die gleiche Aufgabe trainiert und getestet.
Das Entscheidende jedoch: Im Verlauf der Tests variierte das Team die Symmetrie und Komplexität der geometrischen Formen. Denn frühere Studien legen nahe, dass unser Gehirn Formen umso besser erkennt und sich merkt, je weniger beschreibende Merkmale für deren Charakterisierung nötig sind. Ein Quadrat, das nur aus rechten Winkeln und gleichlangen Seiten besteht, ist demnach neurologisch sparsamer als ein weniger symme-trisches Viereck.
Einer Hypothese nach könnten unsere Vorfahren demnach eine Vorliebe für geometrische Formen entwickelt haben, weil diese für sie leichter zu erkennen und zu unterscheiden waren als „schiefe“ Formen. Das weckt allerdings die Frage, wann dieser vereinfachende Geometrie-Sinn entstanden ist und ob ihn auch andere Primaten schon besitzen.
Das Ergebnis: Bei allen menschlichen Testpersonen war der Effekt der Geometrie deutlich erkennbar: Je regelmäßiger und symmetrischer die Formen auf dem Bildschirm waren, desto schneller und sicherer erkannten die Teilnehmer die jeweils abweichende Form. „Einen Ausreißer unter den sechs Vierecken zu finden ist einfacher, wenn entweder die Referenzformen oder der Abweichler hochgradig regelmäßig sind“, so die Forschenden. Dieser Effekt existiert schon bei Kindern und ist auch bei Naturvölkern nachweisbar.
„Das deutet darauf hin, dass es einen universellen Sinn für Geometrie gibt, der in allen Menschen präsent ist und unabhängig von formaler Bildung, Sprache, Wissen und Umwelt existiert“, erklären Sablé-Meyer und seine Kollegen. Das widerlege die Theorie, nach der erst unser Aufwachsen in einer von geometrischen, künstlichen Objekten geprägten Welt uns den Sinn für Geometrie verleihe.
Allerdings: Dieser Geometrie-Sinn scheint bei nichtmenschlichen Primaten noch nicht ausgeprägt zu sein. Denn die Paviane lernten zwar grundsätzlich, den Ausreißer-Test zu bestehen. Ihre Trefferquote lag aber nur knapp über dem Zufall – und das unabhängig davon, wie regelmäßig oder komplex die Formen waren. „Einen der Effekt der geometri-schen Regelmäßigkeit auf das Abschneiden konnten wir nicht beobachten“, so das For-schungsteam.
Nach Ansicht von Sablé-Meyer und seinen Kollegen könnte dies darauf hindeuten, dass die Fähigkeit, Regelmäßigkeiten der Geometrie wahrzunehmen und neurologisch davon zu pro-fitieren, eine rein menschliche Fähigkeit ist. „Das weckt die spannende Möglichkeit, dass Menschen sich von anderen Primaten in kognitiven Mechanismen unterscheiden, die weit grundlegender sind als das Sprachverständnis oder die Theory of Mind", so die Wissen-schaftler.
Möglicherweise sind wir die einzige Spezies, für die die Regelmäßigkeit einer geometrischen Form einen Unterschied macht – und die daher Geometrie zu schätzen weiß. Um dies zu bestätigen, seien aber erst noch weitere Studien auch an anderen nichtmenschlichen Prima-ten nötig. (Proceedings of the National Academy of Sciences, 2021; doi: 10.1073/pnas.2023123118)
Quelle: Proceedings of the National Academy of Sciences
Nadja Podbregar
Nota. - Heißt vereinfachen rationalisieren, oder heißt nicht vielmehr rationalisieren verein-fachen? Ist es überhaupt sinnvoll, auf dieser elementaren Ebene schon von Geometrie zu reden statt nur von einfachen und von komplexeren Formen? Von Gestaltwahrnehmung statt von Ratio?
Es geht offenbar um ästhetische Qualitäten, nämlich um anschauliche. Dass die Menschen in ihrer Lebenswelt von Quadern und sonstigen Rechten Winkeln eingekreist sind, stimmt selbst für uns Mitteleuropäer, wenn überhaupt, erst seit anderthalb Jahunderten. Bis dahin war die Lebenswelt von Homo sapiens bestimmt von wüsten und regellosen Formen. Und das ist es, worauf die Gehirne europäischer Kinder ebenso wie die der Nimba in Namibien eingestellt sind.
Aber auch die der Paviane. Und trotzdem so ein krasser Unterschied?
Ja, gerade deshalb. Paviane sind durch eine lange Selektion/Evolution in ihre Umwelt ein-gepasst. Sie passen zu einander wie Hand und Handschuh. Regelmäßig, nämlich den für sie geltenden Regeln gemäß, ist alles ihnen Gegebene; denn etwas anderes ist ihnen ja nicht ge-geben.
Nicht so die Familie Homo, seit es sie als solche überhaupt gibt. Sie haben ihre Umweltni-sche im ostafrikanischen Urwald mutwillig verlassen und sind in eine offene Welt ausge-brochen, in der sie sich erst noch zurechtfinden mussten - und, wenn man's recht bedenkt, noch täglich zurechtfinden müssen. Dass sie 'von Natur aus' eher nach einfachen Formen Ausschau halten, die der Orientierung einen Anhalt bieten und die sich handhaben lassen, liegt nahe.
In der industriellen Zivilisation des Westens haben sie sich eine künstliche Sekundärnische geschaffen, die quadratisch-praktisch-gut an den Geboten der Handhabbarkeit ausgerichtet ist. Dort geht es ihnen inzwischen so gut, dass die Gebildeten unter ihnen die Nützlichkeit satt haben und sich ein Gefallen an zweckfreier Bizarrerie leisten können. So hat sich, grob gesprochen, ein Reich des Ästhetischen aus einer Welt des bloßen Nutzens heraus gebildet, das die vorgefundenen nach dem Vorbild der selbsterschaffenen Formen als Geschmacks-sachen auffasst. Das ist dann aber schon nicht mehr gebundene Natur, sondern bereits freier Geist.
JE
Nota. - Das
obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie
der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht
wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen