
Die neue Reihe der
Dinge, in die wir eingeführt werden sollen, ist die der Handlungen des
menschlichen Geistes selbst, nicht mehr die der Objekte dieser
Handlungen. Diese Hand-lungen sollen vorgestellt werden; keine
Vorstellung ist mögllich ohne ein Bild. Es müssen demnach Bilder dieser
Handlungen vorhanden sein. Alle Bilder aber werden durch die ab-solute
Spontaneität der Einbildungskraft hervorgebracht, mithin auch dieses.
Ein Teil dieser Bilder - freilich bei weitem noch nicht [die]
der höchsten Handlungen des menschlichen Geistes - sind aud den
Kantischen Schriften unter dem Namen der Schemata, und das Verfahren der
Einbildungskraft mit denselben unter dem Namen des Schematis-mus
bekannt. Die ganze Transzendentalphilosophie soll und kann nichts
anderes sein, als ein getroffenes Schema des menschlichen Geistes
überhaupt.
Wer sieht nicht, dass
dies der Einbildungskraft ein ganz neues und ungeahntes Geschäft gibt;
ein Geschäft, das ihr nur um weniges leichter sein wird, als ihr
Entwerfen der Bilder überhaupt beim Anfange des irdischen Lebens war?
Wer sieht nicht, daß
die Gefühle für diese Bilder um eine Region tiefer im menschlichen
Gemüte liegen, und dass das Vermögen, dieselben zu entwerfen, ganz
eigentlich dasjenige sei, was wir als Geist beschrieben haben? Wer sieht
demnach nicht, dass die Möglichkeit des Stoffes aller Philosophie Geist
voraussetze, und dass ohne Geist alles Philosophieren völlig leer und
ein Philosophieren über das absolute Nichts ist?
Dass ich darüber ein
erschöpfendes Beispiel anführe. - Es ist wohl keinem unter Ihnen völ-lig
unberkannt, dass an einer streng wissenschaftlichen
Transzendentalphilosophie unter dem Namen einer Wissenschaftslehre gearbeitet und das dieselbe auf dasjenige aufgeführt [aufgebaut] wird,
was als reines Ich übrigbleibt, nachdem man von allem abstrahiert hat,
wovon nur abstrahiert werden kann. Eine solche Wissenschaft kann keine
andere Regel geben als die: Man abstrahiere von /
allem, wovon man abstrahieren kann, bis etwas übrig bleibe, wo-von
völlig unmöglich ist zu abstrahieren: Die Übrigbleibende ist das reine
Ich, welches zu-gleich als reines Ich als Regulativ für das Denkvermögen
vollkommen bestimmt ist. Es ist dasjenige, von dem man schlechterdings
nicht abstrahieren kann, weil es das Abstrahierende selbst ist, oder,
was gerade das[selbe] heißt, dasjenige, was sich selbst schlechthin setzt.
Diesen Satz kann man nun als bloßes Regulativ für das Denkvermögen fassen; es muss ihm [nur] im
Laufe der Untersuchung nicht widersprochen werden, und so wird man denn
aus ihm gar leicht die Unzulänglichkeit aller Systeme dartun können, in
denen irgend etwas, so gering dasselbe auch sei, angenommen wird, gegen
welches das Ich bloß sich leidend ver-halten soll; weil dem Ich, so
gewiss es ein Ich sein soll, gar nichts zukommen kann, das es sich nicht
selbst zuschriebe und gegen welches es sich demnach nicht auch zugleich
tätig verhalte.
Wenn man aber auch
gleich diesen ganz richtigen Gebrauch von jenem Satze macht, so bleibt
es noch immer gar wohl möglich, dss man bloß den Buchstaben desselben
gelernt, nicht aber seinen Geist ufgefasst habe. Man macht Gebrauch von
der Formel, in der jener Satz ausgedrückt ist, weil man sie etwa auf
Treu und Glauben angenommen hat, oder weil man ihre Brauchbarkeit zur
bestimmten Erklärung alles dessen, was die Philosophie erklä-ren soll,
bemerkt: Aber man hat auch nichts als eine Formel, wenn man nicht die
Anschau-ung dessen hat, was durch sie ausgedrückt ist. Gesetzt auch man
trüge ein System vor, das für einen Andern Geist und Leben bekommen
möchte, so hat es für uns doch keinen, son-dern ist für uns nur bloße Formularphilosophie.
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J. G. Fichte, "Über den Unterschied des Geistes und des Buchstabens in der Philosophie" in Von den Pflichten der Gelehrten, Hamburg 1971 [Meiner], S. 72f.;
Nota. - Zuerst also eine Berichtigung: Von den Vorträgen Über Geist und Buchstaben... sind, anders, als ich in meinem Kommentar zum vorgestrigen Eintrag schrieb, die ersten drei sehr wohl als Ms. enthalten; erst die folgenden, die Fichte für Schillers Horen umge-arbeitet hat, sind verloren.
Der Wissenschaftslehre selbst fügen diese Prolegomena sachlich nichts hinzu: Sie entwik-keln keine Gedanken, sondern berichten sie, und das gilt bei Fichte nicht als Philosophie. Aber sie erläutern, und dies in entscheidenden Punkten, wie dieses und jenes, das in den folgenden Darstellungen der Wissenschaftslehre entwickelt werden wird, von Fichte ge-meint
ist. Es wird mir klar, dass ich mir einige Wirrungen, die mir bei
meinem Fichte-Stu-dium untergekommen sind, hätte ersparen können, wenn
ich mich um diesen Auftakt zu seiner Lehrtätigkeit früher bekümmert
hätte.
JE, 23. 8. 17
Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE
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