Mittwoch, 26. Mai 2021

Zwischen den Zeiten.

 aus WELTKUNST Nr. 184 10.05.2021                      Meister Liesborn, Verkündigung Mariä                            zu Geschmackssachen

Zwischen den Zeiten
Die deutsche Spätgotik erneuerte die mittelalterliche Kunst mit individuellen, ausdrucksvollen Stilen. Eine Schau in Berlin zeigt sie in all ihrer Pracht. Die Eröffnung musste wegen Corona verschoben werden, doch der Katalog bietet einen sehr guten Vorgeschmack

Von Sebastian Preuss

Wer sich mit dem 15. Jahrhundert beschäftigt, ist immer wieder überwältigt von der In-novationskraft dieser Epoche. Handel und Geldwirtschaft erstarkten und entwickelten zu-kunftsweisende Ökonomien. Bankiers wie die Medici oder die Fugger bauten internationale Netzwerke auf, es kam zu Vorformen der Globalisierung. Bildung und Wissenschaft spiel-ten eine immer größere Rolle, und die Wiederbelebung des antiken Denkens durch die ita-lienischen Humanisten erfasste bald ganz Europa. Überhaupt war die Lust auf neue Erkennt-nisse enorm, am Ende des Jahrhunderts führte der Forscherdrang sogar zur Entdeckung eines ganzen Kontinents. Die christliche Religion blieb die wichtigste Instanz, aber obwohl die Unzufriedenheit mit Missständen der römischen Kirche wuchs, konnte diese sich zur Erneuerung nicht durchringen. Die erzwangen dann nach 1500 Luther und andere Refor-matoren – mit welthistorischen Folgen.

Auch die Kunst brachte tiefgreifenden Wandel. In Florenz griffen Bildhauer und Maler in Italien seit 1420/30 das Menschenbild der Antike auf, erfanden die Zentral­perspektive und entwickelten eine neue Dramatik in ihren Bilderzählungen. Gleichzeitig revolutionierten Jan van Eyck, der Meister von Flémalle und Rogier van den Weyden in den burgundischen Nie-derlanden die Malerei mit einer nie da gewesenen Darstellung von Haut, Haaren und Ge-sichtern, von kostbaren Textilien und schimmernden Juwelen, von detailreich eingerichteten Interieurs und tiefenräumlichen Landschaften.

Zwischen diesen beiden Polen lebten Traditionen der Gotik weiter, etwa Ikonografien des Heilsgeschehens, viele Einzelmotive, Stilisierungen von Gesichtern oder mit reichem Lini-enfluss drapierte Gewänder. Der „Schöne Stil“ um 1400 – auch „Weicher Stil“ auch „Inter-nationale Gotik“ genannt – schien noch Jahrzehnte später immer wieder auf und mischte sich in den Ländern nördlich der Alpen in vielfältiger Weise mit den Innovationen aus Flandern.

Die „Dangolsheimer Madonna“ ist ein Hauptwerk des überragenden Bildhauers Niclas Gerhaertsz. van Leyden, um 1463. 

In Berlin haben sich jetzt vier Häuser der Staatlichen Museen zusammengetan, um die deutsche Kunst des 15. Jahrhunderts in einer klug konzipierten Ausstellung neu zu erhellen. Einen Überblick in dieser Breite hat es überhaupt noch nicht gegeben, und der material- und bilderreiche Katalog (erschienen bei Hatje Cantz) ist ein Standardwerk zum Thema geworden. An dem Titel „Spätgotik“ mag man sich stören, weil er nicht das Zukunftswei-sende enthält, sondern eher betont, dass es sich um eine letzte Phase des Mittelalters vor der italienisch und antikisch beeinflussten Renaissance handelt. Aber es ist eben im Deut-schen der seit Langem eingebürgerte, gängige Stilbegriff für diese Schwellenepoche; ein besserer ist nicht in Sicht. Der Untertitel der Schau, „Aufbruch in die Neuzeit“, verweist dafür unmissverständlich auf das Fortschrittliche in der Kunst von Stephan Lochner bis Riemenschneider und Dürer.

Die Gemäldegalerie, die Skulpturensammlung, das Kunstgewerbemuseum und das Kup-ferstichkabinett sind reich gesegnet mit Meisterwerken der deutschen Spätgotik. Die Ent-stehungsgeschichte der modernen Museen brachte es mit sich, dass die Gattungen in un-historischer Weise auseinandergerissen wurden. Bemalte Flügelaltäre hatten häufig einen Mittelteil mit geschnitzter Holzplastik, in die Architektur der Kirchen waren steinerne Skulpturen integriert, die Fenster glühten mit Glasmalerei auf, während Reliquiare und Altargeräte von einer damals florierenden Goldschmiedekunst zeugen. Hinzu kommen Zeichnungen, Holzschnitte und Kupferstiche, die in wachsender Zahl zirkulierten und iko-nografische Kompositionen wie stilistische Neuerungen selbst über große Entfernungen verbreiteten. All dies bringt die Ausstellung mit 130 Werken zusammen, davon 30 meist hochbedeutende Leihgaben, die Lücken der Berliner Bestände füllen.

Hans Multscher, Wurzacher Altar, Tod Mariens, 1437

So sorgen zwei spektakuläre Altarflügel mit den Apostelmartyrien aus dem Frankfurter Stä-del dafür, dass Stephan Lochner nicht fehlt. Kölns führender Maler war einer der Ersten, der schon in den 1430er-Jahren die realistischen Schilderungen und die Detailfreude Jan van Eycks aufgriff, zugleich aber rheinischen Eigenheiten treu blieb, etwa in den Gesichtern, den Farben und dem nach wie vor beibehaltenen Goldgrund. Auch Konrad Witz in Basel und Hans Multscher in Ulm überführten die atmosphärischen Landschaften, die Ausdrucks-kraft der Heiligen und die raffinierten Innenraumdarstellungen des Niederländers in einen eigenen Stil.

Die deutschen Künstler standen das ganze Jahrhundert hindurch im Bann der flämischen Maler. Alle entwickelten daraus individuelle Handschriften oder Werkstattstile. Etwa der Meister der jetzt in Berlin wiedervereinigten „Karlsruher Passion“: Er verdichtet den Lei-densweg Christi zu einem dramatisch verknäuelten Menschengetümmel, aus dem die Ge-sichter expressiv auftauchen. Der Meister der „Darmstädter Passion“ verleiht Maria ein Porzellangesicht, legt Wert auf ausgefeilte Architekturkulissen und aufwendig gefaltete Ge-wänder. Fast schon exzentrisch ist das Kolorit mit viel Rosa des Meisters von Liesborn, der die Verkündigungsszene in eine akribisch dargestellte Stube seiner Zeit verlegt. In der Skulp-tur ist Niclas Gerhaertsz. van Leyden die überragende Persönlichkeit. Seine „Dangolshei-mer Madonna“ ist ein Wunderwerk menschlichen Ausdrucks und während sie raffiniert mit dem Umhang spielt, springt ihr das Jesuskind vor lauter Übermut fast aus dem Arm. Dass Gerhaerts berühmte Steinbüste eines grübelnden Mannes aus Straßburg geliehen wurde, ist einer der Höhepunkte der Schau.

Am Oberrhein, wohl in Straßburg, entstand um 1450–70 die liebreizende Zeichnung eines Mädchens, dessen Ring als Attribut der heiligen Katharina gedeutet wird. Als Künstler kommt Meister E. S., der bedeutende Kupferstecher, in Betracht. 

Großen Raum nimmt die Druckgrafik ein. Zu Recht, denn die neuen, nach 1400 in Süd-deutschland entwickelten Techniken, Holzschnitt und Kupferstich, lösten eine wahre Medi-enrevolution aus. Rasant stieg in ganz Europa die Nachfrage nach reproduzierbaren Bildern, wozu auch Johannes Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern ihren Teil beitrug. Meister E. S., Martin Schongauer, der Hausbuchmeister – das sind die Genies der rasant verfeinerten Schwarzweißkompositionen. Besonders Schongauer, von dem auch Michelangelo begeistert war, diente mit seinen Kupferstichen vielen Malern und Bildhauern immer wieder als Anregung. Ohne den Boom der Linienkunst auf Papier ist jeder Blick auf diese ­brodelnde Epoche unvollständig.

 

Nota. - Hab ich Recht, hat Dürer die Renaissancekunst nach Deutschland gebracht? Auf jeden Fall hat er den Renaissancekünstler nach Deutschland gebracht: Hier in Venedig bin ich ein Herr, daheim bin ich ein Schmarotzer, schrieb er an einen Freund, und ist doch nach Nürnberg zurückgekehrt.

JE


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