Aufbruch in die Neuzeit zu Geschmackssachen
Mit der ersten umfassenden Ausstellung im deutschsprachigen Raum widmet sich die Berliner Gemäldegalerie der Kunst der Spätgotik. Mit rund 130 Objekten werden in der Gegenüberstellung verschiedener Kunstgattungen die medialen Innovationen des 15. Jahrhunderts und die Kunst der Spätgotik in ihrer Vielfalt sichtbar.
Im Mitttelpunkt der Ausstellung stehen die fortschrittlichen Tendenzen der langen
Über-gangsphase zwischen dem Mittelalter und der Neuzeit. Wie vielleicht
keine andere Epoche ist die Zeit von ca. 1430 bis 1500 im
deutschsprachigen Raum von tiefgreifenden Verände-rungen gekennzeichnet,
die unser Bild- und Kunstverständnis bis heute prägen. Eine große
Auswahl von Werken bekannter Vertreter der Spätgotik, unter anderem von
Stefan Lochner, Konrad Witz, Niclaus Gerhaert von Leyden oder Tilman
Riemenschneider, sind in der Aus-
stellung vertreten.
Angeregt durch niederländische Entwicklungen veränderten sich ab den 1430er-Jahren die künstlerischen Ausdrucksmittel: Licht und Schatten, Körper und Raum wurden zunehmend wirklichkeitsnah dargestellt. Besonders die Bibel und Heiligenlegenden stellte die Malerei dar, als würden sie in unserer gelebten Wirklichkeit stattfinden. „Die Verkündigung an Maria“ von Konrad Witz beispielsweise zeigt die Jungfrau gänzlich unspektakulär: Maria befindet sich in einem einfachen, unmöblierten Gemach, in dem sich nicht einmal ein Kissen oder Betpult befindet.
Neben religiöser Kunst stieg jedoch auch die Nachfrage an profanen Motiven: Landschafts-malerei* und vor allem Porträts fanden ihren Anfang in der Spätgotik. Als eines der ersten modernen Porträts gilt zum Beispiel das Doppelbildnis Wilhelms IV. Graf Schenk von Schenkensteins und der Agnes, Gräfin von Werdenberg-Trochtelfingen.
Im Laufe des 15. Jahrhunderts bildeten sich verschiedene künstlerische Zentren heraus, deren Stil sich deutlich voneinander unterscheidet. In der Ausstellung zeigt sich dies ein-drücklich an Hauptwerken von Stefan Lochner aus Köln, dem Meister der Darmstädter Passion vom Mittelrhein oder dem reichen Bestand an Goldschmiedearbeiten aus Lüne-burg.
Entscheidend für den Verlauf der gesamten europäischen Geschichte war die Entwicklung der Druckgrafik und des Buchdrucks, insbesondere Johannes Gutenbergs Erfindungen der beweglichen Drucklettern und der Druckerpresse gegen 1450, wodurch Texte und Bilder plötzlich in hohen Auflagen reproduzierbar wurden. Neue Ideen und Bilderfindungen zirkulierten jetzt in kürzester Zeit durch ganz Europa. Anhand von Werken wie dem Wurzacher Altar von Hans Multscher, den Tafeln von Konrad Witz und Stefan Lochner oder auch den Kupferstichen des Meisters der Spielkarten zeigt die Ausstellung die durch-greifenden künstlerischen Veränderungen der Zeit ab 1430.
Die Druckgrafik entwickelte sich zu einer der wichtigsten Kunstformen im 15. Jahrhundert. Bilder wurden zunehmend als autonome Kunstwerke wahrgenommen und einzelne Persön-lichkeiten erlangten überregionale Berühmtheit als Künstler. Kompositionen wie die des Meister E.S. oder Martin Schongauers dienten von Spanien bis Polen als Vorlagen für neue Kunstwerke – ob Gemälde, Glasmalereien, Skulpturen, Textilien oder Goldschmiede-arbeiten.
Oft entstanden Kunstwerke im 15. Jahrhundert in enger Zusammenarbeit verschiedener Gewerbe. Die Ausstellung vereint deshalb Schöpfungen in allen Medien – mit Ausnahme der Architektur – und macht anschaulich, wie in der Goldschmiedekunst Modelle aus der Bildhauerei oder der Druckgrafik wiederholt wurden oder wie in der Werkstatt ein und desselben Künstlers sowohl Gemälde als auch Bildhauerarbeiten geschaffen wurden.
Leihgaben und Werke aus eigenen Beständen
Die Sonderausstellung „Spätgotik. Aufbruch in die Neuzeit“ vereint zentrale Werke aus den Beständen der Staatlichen Museen zu Berlin – der Gemäldegalerie, der Skulpturensammlung, dem Kupferstichkabinett, dem Kunstgewerbemuseum sowie der Nationalgalerie und der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek – mit hochkarätigen Leihgaben aus der National Gallery in London, dem Rijksmuseum in Amsterdam oder dem Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg.
Unter der Leitung von Michael Eissenhauer wird die Sonderausstellung gemeinsam kuratiert von Julien Chapuis (Skulpturensammlung und Museum für Byzantinische Kunst), Stephan Kemperdick (Gemäldegalerie), Lothar Lambacher (Kunstgewerbemuseum) und Michael Roth (Kupferstichkabinett).
Publikation
Zur Ausstellung erscheint ein Katalog im Verlag Hatje Cantz, deutsche und englische Ausgabe, 360 Seiten, 215 Abbildungen, ISBN (deutsch): 978-3-7757-4754-7, ISBN (englisch): ISBN 978-3-7757-4755-4, Preis: ca. 40 Euro.
Arte, Der Tagesspiegel und Weltkunst sind Medienpartner der Ausstellung.
Nota. - Seit Jahren kratze ich mich hinterm Ohr: Hat es überhaupt Sinn, in Deutschland und sonst nördlich der Alpen von einer Renaissance zu reden? Bei uns war ja nichts verlo-ren gegangen, das hätte "wiedergeboren" werden können. Und umgekehrt stehen der Bamberger Reiter oder die Figuren im Naumburger Dom, was das 'Menschenbild' angeht, italienischen Plastiken aus dem Quattro- und Cinquecento um nichts nach; dabei war ihr 'Bild' ein ritterlich-feudales und kein 'Aufbruch in eine Neue Zeit'.
Dieser Tage las ich, die kunsthistorische Zunft sei mittlerweile übereingekommen, den Beginn einer deutschen Renaissance auf Dürers zweite Italienreise 1505-1507 zu datieren. Bei seiner ersten Reise ist er wohl über Trient nicht hinausgekommen, beim zweiten Besuch hat er es immerhin bis Venedig geschafft, wo er anderthalb Jahre blieb; nicht nur um zu studieren, sondern, da er auch dort schon ein berühmter Meister war, um zu malen (und zu verkaufen), was er so erfolgreich getan haben soll, dass sogar Raubkopien auf dem Markt kursierten.
Während zuvor seine Malerei und vor allem seine Holzschnitte nach Faktur und dramati-scher Grundhaltung noch ausgesprochen gotisch geprägt war, tritt mit der Italienreise nicht nur ein technisch-stilistischer Wandel ein, sondern zeigt sich eine neue Auffassung vom Zweck der Kunst. Während in der gotischen Sicht die Handelnden und das erlösungsge-schichtliche Ereignis im Vordergrund stehen, geht es nunmehr um das Bild als Ganzes, dessen reinigende Wirkung auf den Beschauer weniger sakral als ästhetisch verstanden wird.
Dürer, Vier Apostel, Uffizien, 1525In München hängen die Vier Apostel aus dem Jahr 1526, Dürers letztes großes Werk. Gotisch ist da eigentlich nur noch die Sattelnase des cholerischen Markus (rechte Tafel, links hinten), während alles andere gut und gern von einem italienischen Renaissancemeister stammen könnte.
'Renaissance' ist in Deutschland ein Import und keine immanente Entwicklung. Manches stilistische Merkmal, das in Italien als renaissancetypisch gilt, war von nördlich der Alpen dorthin gelangt. Wahr ist, dass in ganz Europa ein epochaler Umbruch stattfand, in dem, wenn man schon schematisieren will, die dramatisch-expressive deutsche Spätgotik mehr den Untergang des Bestehenden und die mit sich selbst ringende italienische Spätrenais-sance - eigentlich der aufkommende Manierismus - mehr die Geburtswehen des herauf-ziehenden Neuen zum Thema hat.
*) Etwas vorlaut habe ich unlängst gemeint, der erste 'richtige' Renaissancemaler in Deut-Schland sei eigentlich Albrecht Aldorfer gewesen. Sicher ist er aber wohl der Maler des ersten reinen Landschaftsbildes auf der Welt gewesen.
JE
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