Donnerstag, 13. Mai 2021

Kant beweist nur durch Induktion.

kunstkauf                                      zu  Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Das gesamte Handeln des menschlichen Geistes und die Gesetze dieses Handelns sind bei Kant nicht systematisch aufgestellt, sondern bloß aus der Erfahrung aufgegriffen. Man kann daher nicht sicher sein, 

A) dass die Gesetze des menschlichen Geistes erschöpft sind, weil er sie nicht bewiesen hat; 
B) wie weit sich ihre Gültigkeit erstreckt. 
C) Die merkwürdigsten Äußerungen des Menschen - Denken, Wollen, Lust oder Unlust-empfinden - sind nach Kant nicht aufs Erste zurückzuführen, sondern sind koordiniert.

Das, worauf es hauptsächlich ankommt, nämlich zu beweisen, dass und wie unsern Vorstel-lungen objektive Gültigkeit zukomme, ist nicht geschehen. Die Kantische Philosophie ist nur durch Induktion, nicht aber durch Deduktion bewiesen. Sie sagt: Wenn man diese oder jene Gesetze annähme, wäre das Bewusstsein zu erklären; sie gilt daher nur als Hypothese.
_______________________________________________________________________J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo,
I. Einleitung, Hamburg 1982, S. 5f.

 

Nota. - Das ist das methodologische Paradox der Transzendentalphilosophie, das ihr Stu-dium so beschwerlich macht: Sie fragt nach Herkunft und Rechtfertigung der Vernunft - aber sie wendet sie bei der Analyse bereits so an, als sei sie schon gerechtfertigt.

In specie: Sie nimmt die Begriffe als gegeben. Sie zerlegt sie systematisch und findet an einem Punkt Bestimmungen, hinter die sie nicht hinauskommt. Wo man nicht analysieren kann, muss man mutmaßen und die Mutmaßungen logisch ausprobieren. Das nennt Fichte induktiv: Kant findet 4x3=12 Kategorien und zwei Anschauungsformen und nennt sie das Apriori. Es mag bislang noch niemand bewiesen haben, dass es nicht genug oder dass es zu viele wären, aber darauf kommt es nicht an. Aufgefunden worden wären sie doch nur durch Zufall, weil Kant so ein kluger Kopf war. 

So weit, so gut. Aber eben nicht weiter. Nach dieser Zufallsmethode musste er bei den Ka-tegorien stehen bleiben, er konnte nicht herausfinden und nicht einmal sinnvoll fragen, wo sie herkämen noch wodurch sie begründet sind. Wir finden in der Vorrede zur KrV zwar den Hinweis, er habe Platz für den Glauben schaffen wollen, doch auch, wenn das nicht sarkastisch gemeint wäre, schafft es der Transzendentalphilosophie kein Fundament und lässt sie frei in der Luft hängen. Sie bleiben bloße Hypothesen, die sich allenfalls denkprak-tisch bewähren können, aber nicht wissenschaftlich erweisen lassen.

*

Unvermeidlich war Kant phänomenologisches Verfahren: Anfangen bei den vorfindlichen Gegebenheiten der Vernunft. Das sind die Begriffe, wie zwecks Auswertung der Erfahrung verwendet werden. Die werden so lange seziert, bis ihre kategoriale Bestimmtheit freiliegt. Die gehört eo ipso nicht zu den vorfindlichen Gegebenheiten der Vernunft: Sie musste müh-selig wissenschaftlich-hypothetisch herausgelesen werden. Das ist eine Betimmungsebene über oder unter der wirklich gegebenen Vernunft. Es muss darum ein Schritt über die Be-griffe hinaus oder hinter sie zurück getan werden: Es muss dasjenige freigelegt werden, was die Begriffe befähigt, die Anschauungen, die sie füllen werden, zu fassen. Es muss ein Ver-mittelndes gefunden werden.

Kurz gesagt, ohne systematische Prätention: Begriffe könnten Anschauungen nicht fassen, Anschauungen könnten Begriffe nicht füllen, wenn sie nicht in einem Dritten übereinstimm-ten: dass sie nämlich Vorstellungen sind. Und während man sich Begriffe denken kann, oh-ne dass sie jemand begriffe, kann man sich doch Vorstellungen nicht einmal denken oder gar vorstellen ohne einen, der sie sich vorstellt. Es muss am Grunde ein Vorstellendes ange-nommen werden, wenn Vernunft und Erfahrung möglich sein sollen.

Und hier geht's mit der Transzendentalphilosphie überhaupt erst richtig los: Auch diese prädikative Qualität ist ja nur eine spekulativ entworfene Hypothese. Ob sie ausreicht, die Vernunft zu erklären und gar zu begründen, kann man erst wissen, wenn man es versucht - und wenn der Versucht gelang. Das wäre dann allerdings eine Deduktion. Bis dahin bleibt die Aufgabe, die Wissenschaftslehre zu vollenden.

JE


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