Donnerstag, 6. Mai 2021

Es ist kein Gefühl, wenn nicht mit Freiheit darauf reflektiert wird.

wikipedia                    zu  Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Es ist auch gesprochen worden von einem Gefühle. Seine [des praktischen Ichs] Beschränktheit wird mit Freiheit gesetzt, es wird auf sie reflektiert. Diese Beschränktheit ist das Gefühl. Denn wenn ein Ich beschränkt wird, so entsteht ein Gefühl, sonach hängt das Gefühl selbst mit ab von der Freiheit; es ist kein Gefühl, wenn nicht mit Freiheit darauf reflektiert wird. Ich muss dem Gefühle mich hingeben, sonst fühle ich nicht. Aus dem Gefühle folgt freilich alles von selbst, aber dass nur ein Gefühl entstehe, dazu gehört, dass das Ich sich gleichsam dem Gefühle entgegnsetzen müsse, wenn ein Gefühl und ein Resultat desselben für das Ich vorhanden sein soll.

Die ideale Tätigkeit, die dem Ich zugeschrieben wird, die mit dem Bewusstsein der Freiheit gesetzt wird, ist ein Begriff; sonach ist das, was wir bisher bloß als Anschauung charakteri-siert haben, ein Begriff, die Anschauung. Der Charakter des Begriffs von der Anschauung wäre der: dass in der Anschauung das Ich gesetzt werde als gebunden, im Begriff aber als frei. Daher die Anschauung an sich nichts, oder, wie Kant sagt, / blind ist, der Begriff aber leer an sich, wenn sich das Ich nicht beschränkt findet durch die Anschauung.
______________________________________________________________________  J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 99f.
 



Nota I. - Dass kein Gefühl da ist, wenn ich nicht mit Freiheit darauf reflektiere, muss er aber noch ein wenig erläutern! Wenn ich unterließe, mit Freiheit darauf zu reflektieren, bräuchte ich bei der Blinddarmoperation keine Betäubung; ich muss mich dem Gefühl hingeben, sonst fühle ich nicht? Der Fakir muss auf etwas ganz anderes reflektieren - sich 'ihm hingeben'? - als das Gefühl, um sich eine Nadel durch die Zunge stechen zu können. 

Es hilft mal nichts: Wo von Gefühlen die Rede ist, kann ich mir etwas anderes als ein grob Sinnliches nicht vorstellen.

11. 10. 16


Nota II. - Als ich obige Anmerkung schrieb, war ich noch weniger klug als heute. Erstens:  Die Wissenschaftslehre will herausfinden, wie Vernunft möglich wurde. Was immer zu ihrer Ausbildung beigetragen hat, muss sie berücksichtigen. Wenn sie von 'dem Gefühl' spricht, redet sie nicht von Gefühlen jedweder Art, sondern von den Gefühlen, die... in der Ausbil-dung der Vernunft ein Rolle spielen. 'Es ist kein Gefühl, wenn nicht mit Freiheit darauf re-flektiert wird' bedeutet: In die Genesis der Vernunft geht ein Gefühl ein, sofern mit Freiheit darauf reflektiert wird. Denn der erste Schritt der Reflexion ist die Anschauung: Der obige Fakir 'schaut sein Gefühl nicht an' und gibt sich ihm nicht hin, sodern reflektiert - meditiert über - etwas ganz Anderes: um sein Gefühl nicht anschauen zu müssen.

Zweitens: Fichtes Einführung eines intellektuellen Gefühls in die Philosophie hat mich lange Zeit irritiert. Er braucht es, um in Analogie zu den Denknotwendigkeiten, die aus sinnlicher Erfahrung folgen, Denknotwendigkeiten postulieren zu können, die sich allein aus Denk erfahrungen ergeben. 

Doch an dieser Stelle demonstriert er nicht am genetischen Fortschreiten der Vorstellung die Bedingung der Möglichkeit der Notwendigkeit, sondern schließt aus dem von keinem Vernünftigen zu leugnenden Faktum, dass sein Denken auf der Erfahrung der Notwendig-keit gewisser Rückschlüsse beruht, auf deren Möglichkeit

Streng logisch betrachtet ist das unsauber. Es ist keine Deduktion, sondern eine Induktion: Wer immer sich bislang der Vernunft befleißigte, wird es bestätigen müssen; und: Wer im-mer es leugnet, stellt sich außerhalb der Reihe vernünftiger Wesen.  

Das sei zirkulär? Aber so ist es wirklich: Wir alle betrachten als vernünftig nur den, der die Gültigkeit unserer Evidenzen nicht bestreitet. Vernunft ist nicht beweisbar, sondern muss, damit es sie geben kann, behauptet werden. Die Logik der Transzendentalphilosophie ist pragmatisch. Wo eine - diese eine! - Lücke in der Deduktionskette auftritt, füllt sie sie spe-kulativ. Soll doch einer kommen und etwas anderes beweisen.

JE



Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen