Samstag, 15. Mai 2021

Wer hätte das gedacht: Arbeit prägt den Charakter.

unz

aus spektrum.de, 15.05.2021                                                                                                                  zuJochen Ebmeiers Realien

Arbeiten verändert die Persönlichkeit
Berufseinstieg, Karriere, Ruhestand: Der berufliche Lebensweg eines Menschen färbt auf seinen Charakter ab. Alle zentralen Persönlichkeitsmerkmale sind betroffen.


von Christiane Gelitz

In den ersten Berufsjahren entwickeln sich Erwachsene charakterlich weiter. Aber auch eine erfolgreiche Karriere und der Ruhestand hinterlassen Spuren in der Persönlichkeit. Das zei-gen zwei aktuelle Studien, die Daten aus dem Sozio-oekonomischen Panel (SOEP) ausge-wertet haben, einer bevölkerungsrepräsentativen deutschen Langzeiterhebung. Rund sechs-tausend Erwachsene gaben darin zwischen 2005 und 2017 viermal Auskunft über ihre Per-sönlichkeit, mit Blick auf die »Big Five«: emotionale Stabilität, Extraversion, Offenheit, Ver-träglichkeit und Gewissenhaftigkeit. Die Befragten standen teils am Anfang, teils am Ende ihres Berufslebens.

Wie Eva Asselmann und Jule Specht von der Berliner Humboldt-Universität berichten, wurden junge Erwachsene mit ihrem ersten Job merklich gewissenhafter, verträglicher und extravertierter. Den Selbstauskünften zufolge stieg die Verträglichkeit über die ersten drei Berufsjahre weiter an. Die Gewissenhaftigkeit hingegen sprang gleich zu Beginn des Ar-beitslebens auf ein Allzeithoch und nahm schließlich nach Eintritt ins Rentenalter wieder ab – ein Phänomen, das auch als »La-Dolce-Vita-Effekt« bekannt ist.

Offenbar »reife« die Persönlichkeit mit Arbeitsbeginn und »lockere« sich im Ruhestand wie-der, so deuten die Berliner Psychologinnen ihre Befunde. Sie vermuten, dass das mit den Anforderungen des Berufslebens zu tun hat: Die Menschen müssten sich im beruflichen Alltag zuverlässig, freundlich und professionell verhalten.

Die zwei anderen großen Persönlichkeitsmerkmale, Offenheit und emotionale Stabilität, veränderten sich nicht mit Beginn oder Ende des Arbeitslebens. Sie wandelten sich aber bei beruflichen Erfolgen, meldete ein Schweizer Forschungsteam, das ebenfalls mit Daten aus dem Sozio-oekonomischen Panel arbeitete.

»Die Analysen zeigten, dass beruflich erfolgreichere Personen über die Zeit emotional stabiler und offener für Erfahrungen, aber weniger extravertiert wurden«
Andreas Hirschi, Professor für Arbeits- und Organisationspsychologie an der Universität Bern

Die Gruppe um Andreas Hirschi von der Universität Bern hatte Angaben von mehr als 4700 berufstätigen Erwachsenen in Deutschland analysiert, die über acht Jahre hinweg wiederholt über berufliche Erfolge sowie über Persönlichkeitsmerkmale Auskunft gaben. Stiegen Prestige und Einkommen, wandelte sich die Persönlichkeit mit: »Die Analysen zeigten, dass beruflich erfolgreichere Personen über die Zeit emotional stabiler und offener für Erfahrungen, aber weniger extravertiert wurden«, sagt Hirschi in einer Pressemitteilung seiner Universität. Emotional stabiler bedeutete hier: entspannter, weniger besorgt und besser im Umgang mit Stress. Und weniger extravertiert hieß: distanzierter sowie weniger gesprächig und gesellig.

Der Effekt trat bei Männern wie Frauen und unabhängig vom Alter auf. Die Veränderun-gen seien zwar nicht sehr groß, räumen die Psychologinnen und Psychologen ein, könnten sich aber langfristig auf das Leben auswirken. Hirschis Fazit: »Die Studie illustriert, dass Persönlichkeitseigenschaften nicht nur den Berufserfolg bestimmen, sondern Erfolg auch die Persönlichkeit verändern kann.« Das eröffne eine neue Perspektive auf die Rolle von Erfolg im Leben.

 

Nota. - Diskutabel bleibt immer, was man unter Persönlichkeit, Charakter usw. verstehen will - weil nämlich immer die Frage pathologisch oder normal? im Hintergrund feixt. Die muss man sich hier wegdenken und den Forschern einen umgangssprachlichen Persönlich-keitsbegriff zugestehen, der dynamisch aufzufassen ist. 

Die Frage, ob es sich 'lediglich' um unterschiedliches Training (enforcement) handelt oder um Variationen an einem womöglich genetisch bestimmten invarianten 'Kern', oder gar um eine schlechthin dynamische Größe, wird nicht berührt.

JE

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen