Freitag, 28. Mai 2021

Struktur als Tarnkappe.

Bestimme ich, oder werde ich bestimmt: Wenn gesellschaftliche Strukturen das Handeln der Menschen bestimmen würden, wo bliebe dann Platz für Verantwortung? 
aus nzz.ch, 27. 5. 2021                                                                                                                        zuJochen Ebmeiers Realien
 
Strukturen, überall Strukturen
– wie ein akademischer Begriff die Wirklichkeit erklären soll, indem er sie verunklart
Wenn es um Ungleichheit oder Polizeigewalt geht, wird reflexhaft auf «Strukturen» verwiesen. Auffällig ist der tendenziöse Gebrauch des Begriffs: Vom «Verdacht auf rassistische Strukturen» liest man viel, vom «Verdacht auf demokratische Strukturen» wenig. Was steckt hinter dem Modewort?
 
von Jörg Scheller und Marcel Schütz 

Die Rede von Strukturen hat Konjunktur. In akademisch gefärbten Debatten über Gerechtigkeit, Inklusion und Exklusion, Privilegien, Kapitalismus, Polizeigewalt oder Hautfarbe besagt der Verweis auf «Strukturen», dass man nicht über Einzelfälle spreche, sondern über Muster. Aus der Soziologie stammend, verweist «Struktur» auf Verhältnisse, die dem Bewusstsein, dem Willen und den Wünschen der jeweiligen Individuen voraus-gehen und ihnen a priori übergeordnet sind.

Auf dieser Grundlage ist es etwa möglich, Menschen, die sich niemals rassistisch geäussert haben und die Rassismus explizit ablehnen, als Teilhaber einer rassistischen Struktur zu klassifizieren. Sie sind rassistisch, so die Annahme, weil die sie tragende Struktur rassistisch ist. Umgekehrt kann ein Mensch, der keine konkrete Benachteiligung erfahren hat, als Op-fer einer diskriminierenden Struktur klassifiziert werden. Genau an diesem Punkt wird es spannend.

Die Grundvoraussetzung eines solchen Strukturverständnisses lautet: Struktur sticht Struk-turelement, Gruppe sticht Individuum. Eine Person mit dunkler Hautfarbe kann noch so sehr behaupten, sie sei «post-black» – die Struktur dominiert. Ein Punkmusiker kann noch so energisch rufen «don't call me white» – die Struktur dominiert. Eine Angehörige der angeblichen «Mehrheitsgesellschaft» kann noch so sehr betonen, dass sie von der «Mehr-heit» abweiche – die Struktur dominiert.

Mehr davon, bitte!

Wie zur Überkompensation der «schlechten Strukturen» wird, paradoxerweise, nach mehr Strukturen gerufen. Nach «guten» Strukturen, versteht sich. Strukturen, die diesmal ganz sicher nicht versagen, die immer nur ermöglichen, niemals aber einengen und bevormun-den. Meist sind damit staatliche Strukturen gemeint, also Institutionen. Man müsse die Strukturen nur besser strukturieren, dann würden sie auch die Menschen zu besseren um-strukturieren – so die Annahme.

Menschen erscheinen in diesem Strukturverständnis als Strukturierte, nicht als Strukturie-rende. Bis zu einem gewissen Grad ist das in disziplinärer Eigenlogik begründet: Fleder-mausforscher suchen und finden Fledermäuse, nicht Ameisen. Soziologen suchen und finden Strukturen, nicht Individuen. Auffallend aber ist die selektive Verwendung des Strukturbegriffs in Debatten. Wenn etwa Fälle illegaler Gewaltanwendung durch Polizisten – die es zweifellos gibt – von einem «strukturellen Problem» zeugen, was ist dann mit all den Fällen legaler Gewaltanwendung, die es auch gibt?

Müssten diese nicht auch strukturell bedingt sein? Als Polizisten bei Corona-Demos Ver-querdenker in die Grenzen wiesen oder nominell christlichen Maskenverweigerern eine Einführung in die biblische Nächstenliebe gaben wie im April dieses Jahres im deutschen Worms, da las man nichts vom «Verdacht auf liberaldemokratische und christliche Struk-turen in der Polizei». Und hat man schon einmal von «liebevollen Strukturen in Ehen» ge-hört?

Das Ei ist nicht die Henne

Diesem tendenziösen Gebrauch des Strukturbegriffs gesellt sich ein prätentiöser bei, wie Ayishat Akanbi kürzlich auf Twitter schrieb: «Die Leute fügen jedem uninteressanten Satz Wörter wie Macht, Dynamik, legitimieren, ermutigen, Struktur, Aufrechterhaltung, Weiß-sein oder Monolith hinzu und denken, sie hätten ein Argument vorgebracht.» Wenig später wagte die eigensinnige Londoner Modestylistin sogar, gewisse Probleme auf das konkrete «Selbst», also das Individuum, anstatt auf die abstrakten «Strukturen» zurückzuführen – unerhört!

Ein verkürztes Strukturdenken identifiziert Einzelne vermittels akademischer Theorien ex cathedra mit Gruppenkonstrukten und verknüpft damit Wertungen. Was statistisch zutref-fen mag, besagt jedoch nichts über konkrete Fälle und über jene lebensweltlichen Mischzo-nen, die eine richtig verstandene, nicht nur auf Diskriminierung bezogene Theorie der «In-tersektionalität» erfassen müsste. Das Strukturelement ist nicht identisch mit der Struktur, das Ei nicht identisch mit der Henne. Und wie ist so etwas wie Emergenz überhaupt mög-lich?

Nicht zuletzt kann der Strukturreflex zur bequemen Forderung verleiten, es müsse zunächst «die Struktur» verändert werden, bevor man sich selbst verändern könne – wie bei einem Marathon, den man am Ziel beginnt. Dass es Menschen gibt, denen Strukturen den Weg erschweren oder gar blockieren, ist evident. Doch zugleich gilt die Binsenwahrheit aus der Rechtswissenschaft: «Hard cases make bad law.» Was aber bedeutet «Struktur» jenseits ak-tivistischer Zuspitzungen und journalistischer Grobheiten?

Wie ein Getriebe im Motor

Die Strukturen (hartnäckiger Plural!) sind heute ein Lieblingsthema vor allem der Gesell-schaftsdebatte. Also der Art und Weise, wie die Gesellschaft meint, sich selbst beschreiben zu können. Wo es um Strukturen geht, sind Unrecht, Leid, Nachteil und Verhinderung nicht weit. Beachtlich ist, was alles in das «Füllwort» Struktur hineinproblematisiert wird, sind Strukturen doch im Wesentlichen gefestigte Erwartungen, an die wiederum Erwartun-gen anschliessen können.

Die Gesellschaftstheorie spricht folglich von den Erwartungserwartungen: Man darf bei-spielsweise annehmen, dass Grüße, Gesten oder Gefälligkeiten erwidert werden. Auch darf man erwarten, zu wissen oder zumindest in Erfahrung bringen zu können, wie Gesetze ge-macht, Rechnungen gezahlt, Viren erforscht, schlechte Nachrichten verbreitet oder Denk-mäler errichtet und gestürzt werden.

Struktur als Erwartung, das mag irritieren. Wer käme bei all den gegenwärtigen Alltags- und Zeitdiagnosen auf eine so undramatische Idee! Längst hat sich eine ganz andere, spektaku-lärere Beschreibung von Strukturen in das Gebrauchsverständnis eingeschoben. Strukturen werden darin nicht als verschiedene soziale Verweisungs- und Anschlusskonstrukte verstan-den, sondern, fast mechanistisch, als Zahnräder, Maschinen und Getriebe. In diesen befin-den sich Individuen wie fremdgesteuert, eingeengt oder privilegiert.

Man gilt schnell als ewiggestrig

Offenbar wurde der Strukturbegriff mit der Zeit immer mehr entsozialisiert und automa-tisiert. Automation zum einen beim Waffengang in Debatten. Die Geschütze im Internet werden schon vorgefahren, noch bevor ein Feind zu erkennen ist. Es muss überhaupt nur irgendwer vorbeimarschieren, geschossen wird sowieso, und einen Richtigen wird es schon treffen – immerhin ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass es sich um einen Repräsentanten unliebsamer Strukturen handelt! Automation zum anderen in der Weise, dass man diesen und jenen Konflikt der Gesellschaft innerhalb allzu eng gezogener Grenzen zu erkennen glaubt.

In Wahrheit gibt es unter sozialen Bedingungen natürlich stets differenzierte Strukturen, etwa diejenigen der Familie und des Intimen, Finanzstrukturen und Organisationsstruktu-ren. Was für streng reglementierte Institutionen wie Polizei und Militär gilt, trifft nicht auf alle anderen Bereiche der Gesellschaft gleichermassen zu. Offensichtlich aber liegt eine ge-wisse Erotik darin, Partikulares auf Megastrukturen hochzurechnen.

Alles Konservative steht dann schnell für die Ewiggestrigkeit; die freisinnige Wirtschaftspo-litik sowieso für den Neoliberalismus. Umgekehrt wittert man in einer ökologisch interes-sierten Reformpolitik den nahenden links-grünen Zivilisationsbruch. Und schon ein paar geistliche Worte über die Not der Flüchtlinge genügen, um als bischöflicher Feind des Vol-kes durch den Twitter-Shitstorm segeln zu müssen. Wie arm wären wir dran, gäbe es nicht das reiche Arsenal der Dauerübertreibung.

Immer weitermachen

Im Ergebnis rührt all das Ungemach der Strukturen heute wohl daher, dass man sich von ihrem immens komplexen Klein-Klein kein genaues Bild machen kann. Heillos verstrickt und verkettet ins «große Ganze», gibt man sich allzu gern der süssen Täuschung hin, in Wahrheit den Durchblick zu haben und andere dringend darauf hinweisen zu müssen – es sind diese Strukturen da, ich weiss es genau!

Kurz gesagt findet jedes Anliegen seine Struktur (Singular!), selbst wenn der Erfolg kom-munizierter Strukturwelten mehr und mehr im Entdifferenzieren der sozialen Komplexität besteht; sei es durch Kampfbegriffe, Umsturzpostulate oder Verschwörungsphantasien. Da-mit wird man in offenen Gesellschaften leben müssen, und dem wird man in offenen Gesell-schaften ebenso widersprechen müssen.

Wenn man also «der» Strukturen schon nicht habhaft werden kann, stellt man zumindest so lose wie laute Forderungen an «die» Politik oder «die» Gesellschaft in den Raum. Bleibt da-bei zwar regelmässig im Dunkeln, an wen man sich überhaupt richtet, besteht der kommu-nikative Erfolg dieser Kritik wohl genau darin, bei der Adressermittlung wenig erfolgreich zu sein. Denn wo es kein Ende gibt, kann man einfach immer weitermachen. Oder, wie die Unternehmensberater wissen: Nach der Restrukturierung ist vor der Restrukturierung.

Jörg Scheller ist Dozent für Kunstgeschichte an der Zürcher Hochschule der Künste, Musiker und Bodybuilder. Marcel Schütz lehrt Soziologie an der Universität Bielefeld.

 

Nota. - Alles ist Struktur. Alles ist Fraktal. Alles ist Fiktion, alles ist Konstrukt. Und wo eine Struktur ist, kann ein System nicht fern sein.

Wenn ein Nomen alles bezeichnet, bestimmt es nichts. Sätze, in denen sie vorkommen, sind überflüssig. Sonst nichts? Dann könnte man sie ungehört beiseitelassen. Sie haben aber den Zweck - um nicht Funktion zu sagen -, das unbestimmt-Bestimmbare als weiterer Bestimmung nicht bedürftig erscheinen zu lassen. Es ist die Vergleichgültigung des Konkreten.

Eine leitende Beamtin der Berliner Jugendverwaltung sagte mir einmal "Herr E., Sie wissen doch, wie das System funktioniert", und hätte auch Strukturen sagen können. Ich antworte-te, ein System sei mir bei all meinen Gängen durch ihre Korridore niemals begegnet, immer nur Personen, die dieses taten und jenes unterließen. 

Nach den Prinzipien einer rechtsstaatlichen Verwaltung müsste, was sie tun und was sie las-sen, jederzeit vor Gericht einklagbar sein. Aber versuchen Sie das mal! Dort haben sie näm-lich auch ihre Strukturen.

Verhüllwörter mystifizieren umso sicherer, je entlarvender sie sich gebaren.

*

Eine Struktur bietet sich dem analytischen Blick des kritischen Sozialforschers dar, der im realen gesellschaftlichen Geschehen gewissse Regelmäßigkeiten zu beobachten glaubt. Auf die sieht er ab, indem er von all dem andern absieht. Merkmale, die ihm dabei auffallen, fasst er, wenns geht, zu einem Begriff zusammen, den er wiederum auf das beobachtete Ge-schehen anwendet und zusieht, ob er ihm neue Einsichten in bisher nicht bemerkte Zusam-menhänge ermöglicht. Er wird sich darüber im Klaren sein, dass sein Begriff kein Verzeich-nis kausaler Verursachungsketten liefert, sondern  immer nur ein Bedingungsverhältnis be-zeichnet, zu dem ein akuter Faktor treten muss, damit wirklich etwas passiert; und daher immer nur in abstracto anzuwenden ist, weil er über den Einzelfall nichts aussagt - sondern allenfalls einen Fingerzeig gibt, in welcher Richtung man ersteinmal weitersuchen mag.

JE

 

 

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